Kolumne von Reinhold Andert
Anfang des Jahres 1990 in der Kaufhalle Leipziger Straße. In meiner Schlange vor der Kasse ein älterer Herr. In seinem Wagen eine Tütensuppe und ein Bündel Suppengrün. Als er sich zur Seite drehte, erkannte ich ihn. Es war Kurt Hager. Bis vor Kurzem Mitglied des Politbüros der SED, Chefideologe und Kulturpapst der DDR. Wandlitz war aufgelöst worden, und die Bewohner hatten in Berlin Mietwohnungen bekommen. Hager musste also hier in der Nähe leben.
»Guten Tag, Genosse Hager, wie geht es Ihnen?«, sprach ich ihn an. »Guten Tag, Genosse Andert, wie soll es mir schon gehen, wenn die Konterrevolution gesiegt hat?«, antwortete er. »…
Der Kulturpionier
Kritischer Liedermacher, Dissident und dann »letzter Vertrauter Honeckers« (FAZ) − was genau heißt das? Reinhold Andert wurde 1944 im nordböhmischen Teplitz geboren, machte nach dem Abitur eine Orgelbauerlehre in Gotha, studierte Philosophie und Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und war bis 1972 Assistent für Philosophie an der Musikhochschule »Hanns Eisler«. Seitdem: freischaffend. 1966 war er Gründungsmitglied des Oktoberklubs – der bekanntesten politischen Liedgruppe der DDR – und hatte mit dem Projekt Auftritte beim Festival des politischen Liedes; seine erste LP (1973) stand im Schullehrplan.
Unter dem von ihm geprägten Motto »DDR konkret« engagierte er sich für eine kritische sozialistische Liedkultur. Die Quittung bekam er 1980: SED-Ausschluss und DDR-weites Auftrittsverbot. Anfang 1990 half er Honecker, Zuflucht bei einem Pfarrer zu finden, und führte mit ihm intensive Gespräche, über die er mehrere Bücher publizierte. Heute schreibt er hauptsächlich satirische Texte. Soeben erschienen: »Du mit Deiner frechen Schnauze. Renate Holland-Moritz – Anekdoten und Briefe«, herausgegeben zusammen mit Matthias Biskupek.
Die komplette Kolumne erscheint in der Melodie & Rhythmus 4/2019, erhältlich ab dem 13. September 2019 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.