Melodie & Rhythmus

Eiserne Staatsräson

19.12.2024 18:19

Die deutsche Regierung duldet nur noch Monokultur und veranstaltet ihr Wunschkonzert für die westliche Wertemacht auch in linksalternativen Szenen. Aber einige Newcomer halten mit Anknüpfung an Kulturen der Unterdrückten dagegen

Für das Kulturzentrum Rote Flora in Hamburg heißt Antifaschismus
»Israelsolidarität«
Foto: IMAGO / Hanno Bode

Von Susann Witt-Stahl

In Zeiten des schlechten spätkapitalistischen Normalzustands regelt der Markt die Anästhesierung des kollektiven Gewissens und widerständigen Denkens. Die Kulturindustrie unterminiert die Kunst und stellt sicher, dass keine kritische Masse entsteht, aus der eine (revolutionäre) Kultur von unten aufsteigen kann. Den Rest erledigt eine rigide staatliche Kulturpolitik, die über die Verteilung von Fördermitteln Künstler mit unpassenden Meinungen durch die Aussicht auf Entzug der wirtschaftlichen Existenz gefügig macht und die Unbelehrbaren aussortiert und ins Nichts verstößt. Keine Auftrittsmöglichkeiten, keine Produktions- und Repräsentationsräume – kein Publikum, das applaudieren könnte.

»Die Situation kritischer Künstler hierzulande ist so, wie ich es schon als Schülerin in der DDR gehört habe, nur schlimmer«, sagt Gina Pietsch, Sängerin und Schauspielerin, eine der mittlerweile wenigen großen Brecht-Interpretinnen in Deutschland – und Sozialistin. »Mit meiner Denkweise fühle ich mich schon lange vom eigentlichen Kunstbetrieb isoliert«, so Pietsch, deren Hommage an Esther Bejarano zum 100. Geburtstag »Ein Glück heißt Akkordeon« jüngst Premiere hatte. »Der Mainstream verwässert alles – die marxistische Sicht auf Kunst und Welt, die Friedensbewegung, die Kapitalismuskritik, die Haltung zum Faschismus.«

Denunziation und Einschüchterung

Aber längst zeichnet sich eine neue Qualität von Normierung und Gleichschaltung ab. Der Krieg ist der Vater aller Dinge – dieser heraklitische Satz ist in der BRD als einem ideellen westgebundenen Gesamtimperialisten, der gegenwärtig mit einem in seiner Geschichte beispiellosen Kraftakt bemüht ist, seine militärische Macht auf den Stand seiner ökonomischen zu hieven und auch von ihr Gebrauch zu machen, zum Prinzip einer repressiven Praxis geworden: Seit dem »Zeitenwende«-Jahr 2022, allemal seit dem 7. Oktober 2023, wird der Kunst- und Kulturbetrieb von bisher einzigartigen Säuberungswellen durchzogen. Nicht nur alles Russische und Palästinensische wurde von den Bühnen und aus den Galerien gefegt: Die »Fortschrittskoalitionäre« und ihre Medienarmada, flankiert von einer gut geschmierten Denunziations- und Einschüchterungsmaschine aus Stiftungen und Vereinen mit »Freedom-and-Democracy«-Einpeitschern und Beauftragten für die aggressive Verbreitung alternativer Wahrheiten, überziehen alle mit Hetze, Diffamierung und Verleumdung, die nicht am Wunschkonzert für die westliche Wertemacht mitwirken wollen.

»Wir sind democ«, so der erste Satz der Selbstdarstellung eines von der Bundeszentrale für politische Bildung und der Berliner Kultursenatsverwaltung gesponserten Vereins, der irgendwie nach Darth Vader und »Star Wars« klingt. »Als Journalist*innen, Wissenschaftler*innen und Medienschaffende beobachten und analysieren wir demokratiefeindliche Bewegungen – und denken über Gegenstrategien nach«, definiert er seinen Betriebszweck. Versprochen wird, für eine Gesellschaft zu streiten, »in der man ohne Angst verschieden sein kann«. Aber genau mit der Angst davor wird kalkuliert: democ-Experte Jakob Beyer warnt vor finsteren »musikbezogenen Subkulturen«, »Radikalisierung« und »israelbezogenem Antisemitismus«. Letzte Hoffnungen, dass mit diesem Wording vielleicht doch der genuin rechte Judenhass angegangen werden soll und nicht oppositionelle Regungen gegen die faschistische »Großisrael«-Politik der Netanjahu-Regierung in ein »Hamas«-Täterprofil gepresst werden sollen, werden in der Beschreibung des democ-Projekts zerstört, in der der wirkliche Feind benannt wird: »Seit den späten 1960er-Jahren entwickelten sich in der politischen Linken zahlreiche Gruppierungen, die ihren antiimperialistischen Kampf besonders gegen Israel richteten«, heißt es darin. »Im Zusammenspiel mit alten Spielarten des Judenhasses entwickelte sich eine neue Erscheinungsform des Antisemitismus, in dem antisemitische Vorstellungen auf den Staat Israel und Israelis übertragen werden.«

Und so finden sich linke Künstler im Fadenkreuz der »Antisemitenjäger«. Je drastischer die Kriegsverbrechen im Gazastreifen und je brutaler die Vertreibung der Palästinenser, desto gnadenloser wird ihnen der kategorische Imperativ des kriegstüchtigen deutschen Imperialismus eingebläut: Von deutschem Boden darf nie wieder ein kultureller Protest gegen die größte Militärbasis der USA und NATO im Nahen und Mittleren Osten ausgehen. Was im Kunst- und Kulturestablishment der BRD längst ungeschriebenes Gesetz und durch die im November 2024 im Bundestag mit großer Mehrheit beschlossene »Antisemitismusresolution« und den darin diktierten Betätigungsverboten, Ausschlüssen von Fördermittelvergabe etc. exekutiert worden ist, soll nun auch noch die letzten Nischen linker Gegenkultur durchherrschen: eiserne Staatsräson der »Israel-Solidarität«, die vor allem Komplizenschaft beim Dauermassaker vorwiegend an Zivilisten, Landraub und bei Vertreibung, aber auch Befriedigung von Profitinteressen deutscher und anderer westlicher Rüstungsindustrie bedeutet.

»Wenn Sie noch sagen, dass ›alles ein Alibi ist, um deutsche Sünde loszuwerden‹, verbessern Sie sich sofort und wiederholen Sie mit mir: Staatsräson, Staatsräson, Staatsräson«, spießt der von Víctor Jara inspirierte chilenische Liedermacher und Gitarrist Nicolás Miquea in seinem bitterbösen Lied »Integrationskurs (Korrektur)« deren Funktion für revisionistische deutsche Vergangenheitspolitik auf. Damit könne nicht nur die deutsche Schuld vom Wannsee auf die Westbank verlagert werden. Das Täterland könne sich auch noch »mit dem Image eines unbeugsamen Feindes des Antisemitismus schmücken« und seine »fremdenfeindliche Wende in der Innenpolitik« besonders gegen Migranten aus muslimisch geprägten Regionen verbrämen, schreibt Enzo Traverso in seinem Essay »Gaza im Auge der Geschichte« und erinnert an das machiavellistische Wesen der Staatsräson: Der Begriff »bezeichnet die uneingestandene Übertretung des Gesetzes im Namen eines übergeordneten Sicherheitsimperativs«, führt Traverso mit Verweis auf den Urheber, Giovanni Botero (1544–1617) aus. »Die Staatsräson legitimiert also illegale und unmoralische Handlungen, die eine Art dunkle Seite des Gesetzes darstellen.«

»Israel oder Barbarei«

Längst zählt die linksalternative Kulturszene – autonome Zentren, Musikklubs, Labels, Konzertveranstalter etc. – zu den willfährigsten Durchsetzern der deutschen Staatsräson. Sie habe den weltweiten antizionistischen und propalästinensischen Konsens der Linken gegen Kolonialismus, Apartheid, Besatzung und Völkermord durch »zionistische Ideologisierung« ausgetauscht, meint Nicolás Miquea. Dass er hier wiederholt von »Antifas« angefeindet, von Konzerten ausgeladen, sogar geschlagen wurde – von Securitys der Linkspartei, wie er im Gespräch mit M&R berichtete –, weil er sich für Palästina ausspricht, ist nur eines von unzähligen Beispielen dafür, dass internationale Künstler, die des »israelbezogenen Antisemitismus« bezichtigt werden, auch im linksdeutschen Kulturmilieu keine Bühne mehr bekommen.

Wie bei nur scheinbar unabhängigen Kampagnen, etwa »Artists against Antisemitism«, wird von oben mit »Überzeugungsarbeit« nachgeholfen. Zum Beispiel haben das Hafenklang und der Golden Pudel Club in Hamburg, das Conne Island in Leipzig (das für seine rassistische Türpolitik gegen allzu verdächtig nach »Araber« aussehende Besucher berüchtigt ist) sowie der Technotempel About Blank in Berlin – alle locken Besucher mit linkem und subversivem Flair – Fördermittel von der Initiative Musik erhalten. Diese größtenteils vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien finanzierte gemeinnützige GmbH, die 2007 gegründet wurde und deren Träger die Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten und der Deutsche Musikrat sind, sorgt nicht nur für die Stärkung des »Popstandorts Deutschland« – sie betreibt auch in enger Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt das Branding von NATO-gestützter imperialer Politik.

So wundert es kaum, dass die von Initiative Musik geförderten Klubs mutmaßlich palästinasolidarische Künstler schon seit Jahren »mccarthyistischer politischer Tests der Loyalität zu Israel« unterziehen, wie die Kampagne Boycott, Divestment und Sanctions (BDS) kritisiert, die den zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen die israelische Besatzungspolitik koordiniert. Sie ist eine Säule der internationalistischen Gegenkulturbewegung, die seit Beginn der Gazaoffensive der IDF Konturen annimmt.

Auch migrantische Szenen wollen sich von dem – weitgehend durchkommerzialisierten und im Bewusstsein seiner Zugehörigkeit zur besitzenden Klasse handelnde – linksdeutsche Klubestablishment nicht weiter mundtot machen lassen und bauen Gegendruck von unten auf. So bescheinigten die propalästinensische Rapperin Sorah und die Hamburger Initiative Flora für alle dem Hafenklang in einer gemeinsamen öffentlichen Erklärung »ein komplettes Fehlen von Kritik am deutschen Staat« und ein leeres Verständnis von Antifaschismus – »außer wenn es um das Existenzrecht Israels ohne festgelegte Grenzen geht«. Das ist symptomatisch für solche Kulturinstitutionen: Während sie nicht einmal in Erwägung ziehen, das Lebensrecht der palästinensischen Kinder zu verteidigen, überschlagen sie sich mit servilen Solidaritätsbekundungen für den Judenstaat, der eine der stärksten Armeen der Welt unterhält – genau wie es die deutsche Staatsräson vorschreibt.

Sorah powert mit Songs wie »1902 (prod. by Spoke)« gegen die Fremdenfeindlichkeit im normalisierten Deutschland. Ihr für Oktober 2024 geplanter Auftritt im Hafenklang im Rahmen ihrer »Mistral«-Tour war nach einer zähen Auseinandersetzung geplatzt. Laut eigenen Angaben wurde Sorah vom Management des Klubs mit willkürlichen Antisemitismusvorwürfen konfrontiert. Darüber hinaus habe man sie gedrängt, sich zu den »von der Hamas geköpften Babys« und zu »Vergewaltigung als politischer Waffe« zu positionieren und präventiv einem Abbruch ihres Konzerts zuzustimmen für den Fall, dass im Publikum Palästina-Flaggen geschwenkt und »Vom Fluss bis zum Meer«-Ausrufe getätigt würden: »Eine tribunalartige Situation«, heißt es weiter in der Erklärung von Sorah und Flora für alle – »nichts als polizeiartige Kontrolle und Rassismus.«

Flora für alle ist vor einigen Monaten in Reaktion auf den Westliche-Welt-Chauvinismus des autonomen Kulturzentrums Rote Flora im Hamburger Schanzenviertel entstanden, das schon 2007 ein Kufiya-Verbot in seinen Räumen verordnet hatte und auf dessen Fassade kürzlich ein Transparent mit dem Slogan »There is no free world without Zionism« prangte (nach einem internen Streit wurde es wieder entfernt). Die Initiative richtet sich gegen den Ausschluss antiimperialistischer Migrantengruppen und eine repressive Raumvergabepolitik in dem seit 1989 besetzten Haus, bestimmt durch eine »kleine Clique lautstarker Staatsantifas«, die mit dem Slogan »Israel oder Barbarei« (eine Pervertierung von Rosa Luxemburgs Diktum »Sozialismus oder Barbarei«) agiert, und fordert »Make Flora red and international again!«

Kulturen der Unterdrückten

Die antikoloniale Palästina-Solidaritätsbewegung lässt erste Knospen einer neuen Gegenkultur für die Verdammten dieser Erde ersprießen und deren Aktivisten mit Boykottaufrufen gegen Musikklubs, die deutsche Zustände ventilieren, bereits ihre Muskeln spielen – Hafenklang, Conne Island und Co. sind mit einem nie dagewesenen Hagel von Absagen internationaler Künstler konfrontiert. Die vom liberalen Medienmainstream mit der haarsträubenden Unterstellung, jene seien von »Vernichtungswünschen« getrieben, und mit geschmacklosen Schlagzeilen wie »Tanz nicht bei Juden« melodramatisch in Szene gesetzte larmoyante Selbstviktimisierung der Verantwortlichen für die Misere, ein Markenzeichen deutscher Entlastungsstrategien, indiziert: Wo gestern noch machtbewusste Arroganz herrschte, breitet sich mittlerweile eine gewisse Nervosität aus. Kein Wunder, denn das linke Kulturbusiness steht vor einem Dilemma: Es unterwirft sich nicht nur politisch, sondern auch ästhetisch der deutschen Monokultur. Das heißt, die im Milieu der ökonomisch Klassenbesten angesiedelten Ableger der Hamburger Schule mit ihrem zynischen Standpunkt »Warum die Welt verändern, wenn man sie gut aushalten kann!« und die mittelständischen Elektropopper mit ihrer gähnenden Apathie sind bald allein zu Haus – und statt Publikum strömt nur noch bürgerliche Kälte in seine Musikklubs. Oder es öffnet seine Pforten (wieder) für internationalistische Künstler, die den Unmut der Tugendwächter der deutschen Staatsräson erregen.

Ante portas stehen junge Newcomer, die sich an den größtenteils verschütteten Kulturen der Unterdrückten orientieren und sich an eine Erkenntnis herantasten, die Bertolt Brecht 1952 auf dem Völkerkongress für den Frieden in Wien teilte: »Die Abgestumpftheit ist es, die wir zu bekämpfen haben, ihr äußersten Grad ist der Tod.« Der Hip-Hopper Believe Raimondo trotzt ihr mit viel Soul und Lyrik, die wütendem Schmerz Ausdruck gibt: »Die Enkel der Männer in den SS-Gewändern sind heutzutage häufig starke IDF-Verfechter, heucheln etwas von ›historischer Verantwortung‹ und jubeln dann beim nächsten Genozid«, heißt es in seinem Song »War (feat. Tenor)«. Die Künstler, die aus ihrer Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf und anderem antikolonialen Widerstand kein Geheimnis machen, würden zwar auf institutioneller Ebene ausgegrenzt, genössen aber nicht nur bei migrantischen Jugendlichen großes Ansehen, so Raimondos Erfahrung mit dem Publikum der neuen Gegenkultur. »Besonders bei jungen Leuten aus der Arbeiterschicht hat die sogenannte Staatsräson wenig Wirkmacht.«

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