Zur Dialektik des 8.-Mai-Gedenkens nach der Zeitenwende

In Alfred Hrdlickas Bilderzyklus »Plötzenseer Totentanz« bilden die Fleischerhaken im Hinrichtungsraum ein durchgehendes Motiv.
Foto: Imago images / Reiner Zensen
Susann Witt-Stahl
Es geschah 2004 auf einer Gedenkfeier zum 8. Mai in einem Ehrenhain für jüdische Spanien-Kämpfer in der Nähe von Jerusalem. »Es war nicht unser Fehler, dass wir nicht gewonnen haben«, rief der Kommunist David Ostrowski eine herbe Niederlage ins Gedächtnis, die 1939 nicht zuletzt durch den Verrat der westlichen Demokratien durch Anerkennung des Franco-Regimes herbeigeführt wurde und Hitler den Weg ebnete, wenige Monate später einen Weltenbrand anzuzetteln. »Ich war am 9. Mai in Berlin – ich habe gewonnen«, unterbrach ihn sein Kamerad Salman Salzman mit einer Widerrede.
Diese Episode, die der israelische Filmemacher Eran Torbiner dokumentiert hat, spiegelt die Dialektik des aufgeklärten 8.-Mai-Gedenkens: Es hat das Niederringen der faschistischen Diktatur als welthistorischen Sieg zu feiern und an die vielen trauernd zu erinnern, die dafür ihr Leben lassen mussten und die die bisher verhinderte Erledigung eines welthistorischen Auftrags einklagen – Verhältnisse herzustellen, die keine Barbarei mehr hervorbringen.
Der Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus gilt zu Recht als einer der hoffnungsvollsten Momente des 20. Jahrhunderts. »Auf dem Marktplatz haben die Soldaten ein Hitlerbild verbrannt, alle haben gefeiert, lagen sich in den Armen – und ich habe dazu Akkordeon gespielt«, erzählte die einem Todesmarsch aus dem KZ Ravensbrück entkommene Musikerin Esther Bejarano, wie sie in der mecklenburgischen Kleinstadt Lübz das Ende des Naziterrors und Massenschlachtens in Europa erlebte. Vor ihren Augen blitzte damals eine konkrete Utopie auf: Als US-Soldaten und Rotarmisten sich verbrüderten, küssten und gemeinsam den Frieden begrüßten, schien für einen Augenblick alles möglich.
Aber es kam anders. In Westdeutschland sollte aus den Ruinen der alten Ordnung ein Globke-Staat auferstehen und eine Restauration einsetzen. Das Kalkül der Nazi-Funktionseliten, dass sie »im Kampf gegen eine kommunistische Expansion« gebraucht würden, wie es Reinhard Gehlen, ehemaliger Leiter der Abteilung »Fremde Heere Ost« der Wehrmacht und dank US-Kriegsministerium später Chef des Bundesnachrichtendienstes ausdrückte, ging auf. Was in der Bonner Republik nicht zuletzt wegen der Existenz eines Anti-Globke-Staats gebändigt erschien, drängte nach der »Wiedervereinigung« und einer Phase der »Normalisierung« zum Durchbruch: deutsche Kontinuitäten, die sich gegenwärtig während des nächsten »heimlichen Aufmarschs«, wie es in Erich Weinerts antifaschistischem Lied heißt, gegen Russland wieder entfalten. Da sie nichts als Vernichtung und Zerstörung zeitigen können, wieder faschistische Räuberheere loslassen – diesmal unter dem Kommando der »wehrhaften Demokratie« – wird die Manipulation oder Auslöschung der kollektiven Erinnerung an Anfang und Ende des Schreckens des letzten großen imperialistischen Krieges zur Notwendigkeit.
Regressive Dialektik
Traditionell ist Geschichtsrevisionismus das Geschäft der Nationalisten – das gilt bis heute. Je verlogener sie Frieden predigen, desto dreister verbreiten sie revanchistische Narrative, mit denen seit jeher Kriege legitimiert werden: »Ich gehe nicht in die russische Botschaft, um den 8. Mai zu feiern«, erklärte AfD-Kochefin Alice Weidel. »Es wurden so viele auch nicht aufgearbeitete Verbrechen an der deutschen Bevölkerung begangen. Und ich finde, da sollten wir auch mal Gedenktage einführen«, so Weidel weiter, die die Zerschlagung Hitlerdeutschlands vor allem als »Niederlage« für ihre »Heimat« betrachtet. Solche Gesinnung fällt in die Vergangenheitsbewältigungsstrategie des postnazistischen Deutschlands zurück, die Erinnerung nur als Instrument der Aufrechnung der eigenen Schuld gegen die der Feinde des »Dritten Reichs« zuließ – in der Hoffnung, das Sühnekonto auf null bringen zu können.
Das Establishment der »wehrhaften Demokratie« empört sich über derartigen Zynismus und die »Schuldkult«-Rhetorik der Reaktion. Faktisch paktiert es aber längst mit dieser in seiner Gedächtnispraxis: Seit 2022 sind am 8./9. Mai an den Gedenkstätten der Hauptstadt nicht nur russische Symbole auf Fahnen, Kleidungsstücken etc. untersagt, sondern auch sowjetische, ebenso die Lieder des Großen Vaterländischen Krieges. Damit werden die Befreier vom Hitlerfaschismus, die einen Vernichtungsfeldzug abzuwehren und mit 27 Millionen Toten die Hauptlast zu tragen hatten, entehrt und ihre historischen Verdienste in den Staub getreten – aber auch der aggressive Antikommunismus als Feindstrafrecht exekutiert, der nach 1945 sorgsam bewahrt wurde: »Er ist die offizielle staatsbürgerliche Haltung, und in ihm haben sich ideologische Elemente des Nazismus mit denen des kapitalistischen Westens amalgamiert«, bescheinigten Margarete und Alexander Mitscherlich 1967 in ihrer Studie »Die Unfähigkeit zu trauern« der Kollektivpsyche im Globke-Staat und stellten fest, dass das Bild vom Bolschewisten aus dem »Dritten Reich« in diesem »kaum korrigiert« worden war. Und so brechen sich im Zuge der Anstrengungen für einen dritten großen Waffengang gen Osten Atavismen ungehindert Bahn: Das jegliche rationale Gründe entbehrende Verbot sogar des Zeigens des Siegesbanners, das Rotarmisten am 1. Mai 1945 auf dem Reichstag gehisst hatten, muss nicht zuletzt als Bemühung der Eliten der einstigen »Herrenrasse« verstanden werden, wenigstens auf der erinnerungskulturellen Ebene die Demütigung der Kapitulationsniederlage zu tilgen, die ihr ausgerechnet durch »den bolschewistischen Untermenschen« bereitet worden war.
Ein effizienteres ideologisches Verdrängen als die Verbannung der als Täter stigmatisierten Befreier aus der öffentlichen Wahrnehmung ist in einer Gesellschaft im Stande reaktionärer Aufarbeitung der Vergangenheit die Verkehrung kategorischer Imperative: Das »Nie wieder!«, das seit Jahrzehnten inflationiert, enthistorisiert und von einer Gedenkkulturindustrie banalisiert wurde, ist heute dermaßen sinnentstellt und -entleert, dass es mühelos mit einer völlig anderen Bedeutung aufgeladen werden kann. »All das alte Böse, das das moderne Russland zurückbringt, wird besiegt werden, so wie der Nazismus besiegt wurde« – es sind auch solche von der »Tagesschau« veröffentlichten pathischen Projektionen, mit denen Wolodimir Selenskij zum 8. Mai 2023 deutsche Schuld in Russland endlagerte und die den ukrainischen Präsidenten zum Liebling hiesiger Qualitätspresse aufsteigen ließen. Damit lässt sich hervorragend Propaganda gegen Antifaschisten und das Friedenslager, die »Putler-Knechte« und »Chamberlains«, orchestrieren, bis auch diese den »Irrtum« eingestehen, der dem Magazin Der Spiegel nicht zufällig zum 8. Mai 2022 auffiel: »Nie wieder Krieg ist die falsche Lehre«, lautete die infernale Synthese der – den neuen »Sachzwängen« des deutschen Imperialismus entspringenden – regressiven Dialektik der Revision der »Niederlage« und Enttabuisierung der Wiederholung der Verbrechen, die diese herbeiführten.
Linke Affirmation deutscher Kontinuitäten
Die gesellschaftliche Linke vermag der Pervertierung des 8.-Mai-Gedenkens nur wenig entgegenzusetzen. Bis in die 1980er-Jahre, als sie zumindest zum Teil noch historisch-materialistisch geerdet den Faschismus als gewalttätigste Form der Kapitalherrschaft erkannte und somit auch die Tragweite des historischen Auftrags »Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln« verstand, reflektierte sie die Dialektik des 8. Mai in Feierlichkeiten, die von revolutionärer Hoffnung und schonungsloser Bewusstmachung schmerzlichster Verluste getragen war. Die Forderung des ehemaligen Widerstandskämpfers Peter Gingold, das Gedächtnis an »das Morgenrot der Menschheit, diesen Jubel« (inklusive der Tatsache, dass letzterer in Deutschland ausblieb) am Tag der Befreiung zu bewahren, wurde weitgehend erfüllt; ebenso haben Antifaschisten die von der deutschen Restauration verordnete Grabesruhe des Vergessens mit der lauten Mahnung durch Ehrung der gefallenen (kommunistischen) Kämpfer gestört.
Seit dem Zusammenbruch des Realsozialismus gehen wichtige Koordinaten des aufgeklärten Gedenkens verloren. Manche Antifas lösen dessen Dialektik falsch in Richtung Feiern auf und reduzieren es auf Partylaune und Hedonismus mit fetten Technobeats und Schaumwein – Koma statt Erinnerung. Oftmals kommt der historische antifaschistische Widerstand schon gar nicht mehr vor: »Lasst uns bei guter Musik den Tag der Befreiung und uns für unseren Einsatz feiern«, hieß es in einem Aufruf zur 8.-Mai-»Nachttanzdemonstration«. Nicht wenigen entfällt im narzisstischen Rausch am »Sieg« über den Hitlerfaschismus sogar, dass es gar nicht sie waren, die ihn errungen haben. Und so begreifen sie auch nicht, wenn manche (politische) Nachkommen derer, die dafür geblutet haben, nicht in ihr triumphbesoffenes »Wer nicht feiert, hat verloren«-Gegröle einstimmen.
Andere nutzen die Gunst der Gedenkstunde, um dem zu huldigen, das sie angeblich bekämpfen: Der Slogan »Bomber Harris, do it again!« ist nur scheinbar ein radikaler Einspruch gegen die »Bombenholocaust«-Larmoyanz der Neonazis. Beide vergießen Tränen über den Krieg, die einen nur wegen der Schmach, dass er verloren ging, die anderen nur vor Freude, dass er gewonnen wurde – keiner von ihnen aber darüber, dass er überhaupt stattgefunden hat, obwohl Auschwitz ohne ihn nicht möglich gewesen wäre. Die Lust an Krieg, Zerstörung, Gräueln ist integraler Bestandteil der nihilistischen Weltanschauung der Faschisten und allein deshalb mit Antifaschismus unvereinbar. Wer sie am 8. Mai oder verwandten Gedenktagen auslebt und sich an Bildern vom Phosphorregen über Dresden labt, beflügelt geschichtsrevisionistische Lügen: Die Nazis hätten den Krieg nicht gewollt, ist eine davon; in Deutschland habe es nur Täter gegeben eine andere, die in eine fatale Exkulpierung münden kann: Wo es heute alle waren, wird es morgen keiner gewesen sein.
Während die einen Linken noch die Ächtung des Krieges als Ballast betrachten, strecken andere ihr 8.-Mai-Gedenken schon längst nach der Ideologiedecke des kriegstüchtigen Deutschlands als neue militärische Führungsmacht Europas: »Wichtig ist nur, nicht zu vergessen, dass auch die Befreiung am 8. Mai mit Waffengewalt geschah und dass die Ukrainer:innen jedes Recht haben, sich zu verteidigen. Das haben sie auch getan, als sie von Hitlerdeutschland überfallen wurden«, warb 2023 in Sachsen ein Bündnis, an dem unter anderen das Aktionsnetzwerk »Leipzig nimmt Platz« beteiligt war, für eine Demonstration mit einer Gleichsetzung von Ereignissen, zwischen denen ein fundamentaler Unterschied besteht: Damals kämpften »die Ukrainer:innen« mit der Sowjetunion in einem antifaschistischen Krieg gegen Hitlerdeutschland, sofern sie nicht der faschistischen Organisation Ukrainischer Nationalisten, seinen Verbündeten, angehörten. Und sofern sie nicht zur unterdrückten antifaschistischen Opposition gehören, kämpfen sie heute in einem Stellvertreterkrieg für Deutschland und die NATO-Osterweiterung – unter ihnen nicht wenige, die sich in die Tradition der Nazikollaborateure von damals stellen. Wo Antifaschismus für die Legitimierung imperialistischer Kriege instrumentalisiert wird, da darf der Antikommunismus nicht fehlen: Unter denen, die den 8. Mai feiern, seien »häufig linke Antisemiten oder Stalinisten, die sich freuen, politisch korrekt Stalin loben zu können, aber niemals ein positives Wort in Richtung Westen sagen würden«, enthüllte Jungle World schon vor Jahren. »Bei Wodka und Ernst Busch wird die Rote Armee zum einzigen erwähnenswerten Befreier.«
Was alle diese 8.-Mai-Narrative vereint: Alle fördern – einige mehr, andere weniger – die Affirmation deutscher Kontinuitäten. Wer den Feiertag zur Konsumware verdinglicht, als günstige Gelegenheit für die Fetischisierung kriegerischer Gewalt oder die Verbreitung der Kollektivschuldthese benutzt, verspottet und verleugnet objektiv diejenigen, die den höchsten Preis gezahlt haben: die im Kampf ums Ganze, einen Grundsatz des Sozialismus, gefallenen Antifaschisten. Häufig werden die Mitglieder von Widerstandsorganisationen wie der »Roten Kapelle« oder der Bästlein-Jacob-Abshagen-Gruppe nur noch als das akzeptiert, was sie am wenigsten sein wollten: Opfer.
Auslöschung der marxistischen Erinnerung
Revolutionäre Erinnerungskultur, die getöteten Genossen gewidmet ist, halte vor allem »die Unsterblichkeit ihres Ideals« hoch, »das in die roten Fahnen derer eingeschrieben ist, die ihnen gedenken«, merkt der italienische Historiker Enzo Traverso in Anlehnung an Walter Benjamins geschichtsphilosophische Thesen an. Heute gebe es keine wirkmächtige politische Bewegung mehr, deren »lebendiger Fluss« den Schmerz des Verlusts von Kämpfern sublimieren könnte. Das ist ein bitterer, weil zutreffender Befund. Übrig blieb nur die Sozialdemokratie, deren zentraler Wesenszug Opportunismus ist. Sie sollte der Arbeiterklasse erneut »die Sehne der besten Kraft zerschneiden« und den Kampfeswillen neutralisieren, der sich, wie Benjamin festhielt, nur »am Bild der geknechteten Vorfahren nähren« kann, das sie durch die Vision von den »befreiten Enkeln« ausgetauscht hat.
Dieses Vergessen forciert ein invalider Antifaschismus, der heute zum Vehikel des Massenbetrugs einer sich zum Angriffskrieg hochrüstenden »wehrhaften Demokratie« zu verkommen droht: Von oben gelenkt, nur gegen »ausgemusterte« Nazis und wegen seines Abnickens von »Kanonen statt Butter«-Krediten auf der Sonnenseite einer »Brandmauer« geduldet – die es in der BRD nie gegen die Faschisten, sondern immer nur gegen die antikapitalistische Linke, Antiimperialisten und das Friedenslager gab und geben wird.
Dieser entwaffnete Antifaschismus ist das Ergebnis der bis heute unterschätzten welthistorischen Niederlage von 1989/90. Sie erweist sich auch mental als verheerend, weil die Linke sie kampflos erlitten hat. Es gibt keine in (konterrevolutionären) Schlachten heroischen Besiegten – aus Zerfall und Depression kann kaum eine Erinnerungskultur entstehen, die revolutionäre Hoffnungen wachhält. Der Kollaps des Realsozialismus hat eine Paralyse und Amnesie ausgelöst. »Die marxistische Geschichtskonzeption implizierte eine Erinnerungsvorschrift: Man musste die vergangenen Ereignisse ins historische Bewusstsein einschreiben, damit sie in die Zukunft projiziert werden konnten. Es handelte sich um eine ›strategische‹ Erinnerung an vergangene Kämpfe, eine auf die Zukunft orientierte Erinnerung«, so Enzo Traverso. Durch die Zeitenwende von 1989/90 sei »diese Dialektik zwischen Vergangenheit und Zukunft«, die die Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen durchzieht, beschädigt worden, und das Verschwinden der Utopien habe »zur fast vollständigen Auslöschung der marxistischen Erinnerung« geführt.
Revolutionäre Melancholie
Diese Krise der Linken und der damit verbundenen Trauerbewältigung eröffnet aber auch die historische Chance auf »Wiederentdeckung einer melancholischen Geschichtsrevision als Eingedenken«, wie Traverso es ausdrückt – ein Akt der Rettung der Vergangenheit für die Zukunft. Wozu orientierungslose Antifaschisten, unter denen auch eine Unfähigkeit zu trauern herrscht, nicht in der Lage sind – das kann die Kunst ihrer Ahnen ganz im Sinne Benjamins: ein Eingedenken erzeugen, das »das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abgeschlossenen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen macht«. Die Kraft, dieses in Gang zu setzen, schöpft sich aus der Ästhetisierung der durch Niederlagen erlittenen Qualen und Schrecken, die keinen Rückzug ins innere Exil gestatten. Ganz im Gegenteil: Das, was Traverso auch als »revolutionäre Melancholie« bezeichnet, »betrachtet die mit den verlorenen Schlachten verknüpften Tragödien als Last und eine Schuld, die auch das Versprechen einer Wiedergutmachung in sich tragen« und bleibt nicht in der »Aus der Geschichte lernen«-Phrase bürgerlicher Bildungspädagogik stecken – es pocht auf die Veränderung der Realität.
Wer Alfred Hrdlickas Bilderzyklus »Plötzenseer Totentanz« mit dem Menschenschlachthaus der Nazis in Berlin als Motiv, in dem Angehörige des Widerstands an Fleischerhaken aufgehängt wurden, auf sich wirken lässt, erahnt zumindest das Potenzial von Kunst, ein Eingedenken des Kampfes im Subjekt auszulösen, der nicht eingestellt wird, solange der historische Auftrag, den die besiegten Antifaschisten nicht mehr ausführen konnten, erledigt ist. Gemeint ist ein glühender Wille zum Kampf, der die Dialektik des 8.-Mai-Gedenkens vollständig begreift und ihr Rechnung trägt, wie es David Ostrowski in seiner Erwiderung auf Salman Salzmans Meldung des Sieges über den Faschismus verlangt hat: »Wir persönlich haben gewonnen, weil wir noch am Leben sind, aber wir vergessen nicht das Ereignis, das unserer Meinung nach wichtig war, nicht nur für uns, sondern für die ganze Welt«, erinnerte er daran, dass noch immer das System herrscht, das damals eine Katastrophe angerichtet hat und unaufhörlich weiter Barbarei produziert
Dass Kunst sogar die Selbstentfremdung von Antifaschisten kritisch eingedenken kann, denen es nicht gelingt, das aus historischen Brüchen und Traumata wie 1989/90 entstandene »Niemandsland« zu überwinden – und die eines Tages womöglich gar nichts mehr vom 8. Mai wissen (wollen) –, hat Anna Seghers bewiesen: »Wenn man kämpft und fällt, und ein anderer nimmt die Fahne und kämpft und fällt auch, und der nächste nimmt sie und muss dann auch fallen, das ist ein natürlicher Ablauf, denn geschenkt wird uns gar nichts«, heißt es in ihrem Roman »Das siebte Kreuz«. »Wenn aber niemand die Fahne mehr abnehmen will, weil er ihre Bedeutung gar nicht kennt?«
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