75 Jahre DDR: Wolf Biermann will nicht, dass etwas bleibt und huldigt mit »Zeitenwende«-Poesie dem Globkestaat
Susann Witt-Stahl
Die DDR muss weiter tausend Tode sterben, damit Deutschland leben kann. Vor allem ist der 1989/90 demontierte sozialistische Staat für die politische Klasse, das Kultur- und Medienestablishment als Gruselkabinett unverzichtbar, wenn die Lücken, die der einstige Systemkonkurrent mit antiimperialistischer und antifaschistischer Staatsräson und dem Kollektivgedanken als Gesellschaftsprinzip hinterlassen hat, bei Teilen der Bevölkerung Phantomschmerz verursacht. Nach der Devise »schlimm, schlimmer, DDR« wird weiter die ideologische Abrissbirne geschwungen. »Da am Sozialismus als Staatsdoktrin nicht zu rütteln war, reihte sich Krise an Krise«, wurde in einem Radiofeature des Hessischen Rundfunks mit dem Titel »Götterdämmerung. Das Ende der DDR« erklärt, warum die verdiente Strafe nur Untergang sein konnte. Und natürlich müssen auch alle emanzipatorischen Errungenschaften des »Unrechtsstaats« gnadenlos abgeräumt werden. Mit dem jüngst in den Kinos angelaufenen Dokumentarfilm »Die Unbeugsamen 2« wird nicht zuletzt bewiesen, dass im »Land der staatlich verordneten Gleichberechtigung trotzdem das Patriarchat regierte«. Der politischen Kultur der gegenwärtig von einer rapiden Rechtsentwicklung, Grundrechteabbau und repressiven Gleichschaltung der öffentlichen Meinung gezeichneten Republik, bei deren Gründung schon die alten Nazis an den Schalthebeln saßen, ist fälschlich zu behaupten, dass der Antifaschismus der DDR nur ein »Mythos« gewesen wäre, eine besonders dringliche Herzensangelegenheit.
Der Intellektuelle als Farce
Wenn Feierlichkeiten anstehen und Gefahr droht, dass nicht nur schreckliche Erinnerungen an die DDR hochkommen, gehört eine Hommage an die Anti-DDR-Wunderwaffe Wolf Biermann stets zum Pflichtkulturprogramm der Berliner Republik. Und so erscheint fast pünktlich zum 75. Jahrestag der Gründung der DDR auf dem Label Clouds Hill ein Album mit dem Titel »Wolf Biermann Re:Imagined – Lieder für jetzt!« mit Coverversionen von 22 Stücken des Barden. Zum Albumrelease gibt es ein Konzert im Thalia-Theater in Hamburg, Biermanns Heimatstadt, wo er seit seiner Ausbürgerung aus der DDR 1976 wieder lebt – offiziell wird sein nicht runder 88. Geburtstag als Anlass genannt.
Mitwirkende sind u.a. die Entertainerin Ina Müller, Bonaparte, Annett Louisan und Mola. Für »linke Poesie« und »Independent«-Spirit soll offenbar Peter Licht (»Lieder vom Ende des Kapitalismus«) sorgen. Ebenso die Elektropunkband Das Bierbeben (in der Anfangszeit war eines ihrer Mitglieder unter dem Namen »Wolf Dosenbiermann« aufgetreten) mit dem Tocotronic-Bassisten Jan Müller, die als »Undergroundlegende« vermarktet wird und sich von Franz Josef Degenhardt beeinflusst fühlen möchte. Diese Musiker teilen mit Biermann die Bemühung, sich als Antithese zu dem an den Mann zu bringen, was aus ihnen geworden ist: Sie geben den »kritischen Intellektuellen«, der allerdings im »normalisierten« Deutschland zu einem langsamen qualvollen Tod verurteilt und bereits nahezu ausgestorben ist.
Solche Staatsräson-Musikanten macht nicht einmal mehr stutzig, dass die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur Biermanns Wirken in der Bonner Republik als »vergleichbar mit Heinrich Heine im Pariser Exil« verklärt. Weil sie keine Idee mehr davon haben, was ein Intellektueller ist, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die Farce zu adorieren, zu der dieser verkommen ist: »Musik muss mutig sein. Ich finde ihn rotzig. Das gefällt mir, auch wenn es nicht alles so clean und poliert ist, wie das heute teilweise der Fall ist«, so der Singer-Songwriter Maxim über sein Idol. »Er tritt nach oben.« Dass Maxim schlechte Manieren und Großkotzigkeit mit Widerstandsgeist verwechselt, ist peinlich, dass er die wahren Machtverhältnisse komplett verkehrt darstellt, ein Zeichen tragischen Realitätsverlusts – und symptomatisch für die Ideologie der herrschenden deutschen Zustände (und nur deshalb erwähnenswert).
Gegen die »Endlösung der sozialen Frage«
»Mutig nach oben treten«? Biermann tritt im Rausch des »Glücks der Wiedervereinigung Deutschlands parallel mit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion« nach einem »Oben«, das vor 35 Jahren in den Staub getrampelt wurde. Es gibt kein Mikrofon der BRD-Konzern- und Leitmedien, in das er nicht den Katechismus von Adenauers Globkestaat hineinrülpst. »Im Westen dämmerte mir, dass ich ja eigentlich gar kein Kommunist sein kann«, verbrämte Biermann im Zeitzeugengespräch für die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland seinen geifernden Antikommunismus als Akt der Menschheitsrettung vor der »Endlösung der sozialen Frage«, die uns nicht nur ins »Narrenparadies« führe, sondern »in die schlimmsten Höllen, wo mehr gemordet, mehr geheuchelt, mehr unterdrückt wird als sonst irgendwo auf der Welt«. Für solche »Tritte nach oben« wird er mit Preisen und Ehrungen überhäuft. 2014 bekam er sogar eine Einladung in den Deutschen Bundestag zum Triumphgeheul über »den elenden Rest dessen, was zum Glück überwunden ist«.
Biermann hat sich mehrfach artig bedankt, zum Beispiel mit gegenwärtig besonders willkommenen Entgleisungen gegen das Friedenslager: Wer will, dass das seit 2014 andauernde Gemetzel in der Ostukraine endlich aufhört, und Verhandlungen fordert, die auch die Interessen des durch zunehmend aggressive NATO-Ostexpansion bedrohten Russland berücksichtigen, hält es laut Biermann mit »Hitler« oder »Stalin« – meist mit beiden zusammen. Außerdem darf, wer damals einen Vernichtungskrieg geführt hat, heute der Welt die erworbene Kompetenz in Sachen Mord und Totschlag nicht vorenthalten: »Die Heil-Hitler-Deutschen haben die Ukraine und Russland überfallen und massakriert. Deshalb muss Deutschland jetzt erst recht den Ukrainern beistehen gegen dieses totalitäre, völkermörderische Regime von Putin«, so Biermann. Schließlich muss auch die »Putin’sche Endlösung« um jeden Preis verhindert werden. Auch dass sich vor allem in Ostdeutschland viele Menschen nicht für derartig wahnhafte Dämonisierungen und Endzeitfantasien begeistern und sich nicht so einfach die von den Medien verächtlich gemachte »Friedenssehnsucht« austreiben lassen wollen, kann nur an der Knechtung des gesunden Menschenverstands durch die Diktatur der Roten liegen: »Der Wiedervereinigungsrausch ist passé – gelernten Sklaven tut Freiheit halt weh.«
Ewiger Freiheitskrieg
»Freiheit« – das ist für Biermann ein ganz großes Thema und das Gegenteil von Emanzipation: »›Freiheit‹ heißt, in nacktes Deutsch übersetzt, nichts anderes als verantwortlich sein für sich selber«, verteidigt er tapfer das vom Kapitalismus am höchsten gehaltene Grundrecht zu verelenden und unter die Räder zu kommen. »Ich wollte meinen kommunistischen Vater nicht verraten«, vertraute er im August der Zeit im Interview anlässlich des 63. Jahrestags des Mauerbaus an, um im nächsten Moment genau das tun: »Im Westen begriff ich endlich, was das echte Vermächtnis meines Vaters bedeutet: Der kleine Biermann muss für die Freiheit kämpfen und die Menschenrechte verteidigen.« Ähnlich wie für die fleischgewordene Post-DDR-Hallstein-Doktrin, Ex-Bundespräsident Joachim Gauck, der sich 2019 von der Victims of Communism Foundation (die mit Organisationen von Anhängern des ukrainischen Faschistenführers und Hitlerkollaborateurs Stepan Bandera vernetzt ist) die »Truman-Reagan Medal of Freedom« verleihen ließ –, versteht Biermann darunter die »Freiheit« des NATO-Imperialismus, sich alles herauszunehmen – selbst wenn dabei die Welt in Schutt und Asche fällt. Der »ewige Freiheitskrieg« muss weitergehen. »Wir sind eben so, findet Biermann. »Wir gehn ganz und gar zugrund – und erheben uns wieder!«
Dazu gehört auch, sich von allen Berührungsängsten gegenüber prowestlichen Faschisten freizumachen. 2014 war Biermann dem Springer-Konzern dabei behilflich, auf dem Kiewer Maidan vor Hunderten von SS-Wolfsangeln, Schwarzen Sonnen, Fahnen der faschistischen Organisation Ukrainischer Nationalisten und Swoboda-Partei weit und breit keine Neonazis und andere Ultrarechte zu sehen – und zwar »klipp und klar« nicht. »Wer behauptet, dass das da Faschisten sind, könnte auch behaupten, dass Deutschland ein faschistisches Land sei, weil es die NPD und die NSU-Mörder gibt.«
»Ich bin ein Bellizist von Anfang an«, begründete Biermann seinen Beifall für den von den USA und anderen NATO-Ländern im Bündnis mit faschistischen Milizen durchgesetzten Regime Change in der Ukraine mit angeblich von seinen Eltern geerbter Sympathie für die Antihitlerkoalition: »Die Flugzeuge da oben sind unsere Freunde, weil sie uns Hitler vom Hals schaffen«, zitierte er seine Mutter Emma, mit der er 1943 als kleiner Junge Bomber Harris’ »Operation Gomorrha« gegen Hamburg nur knapp überlebt hatte. »Gebranntes Kind scheut das Feuer. Für mich galt immer umgekehrt: Gebranntes Kind sucht das Feuer! Also wagte ich mich in das Feuer des Kampfes gegen die Parteibonzen der SED-Diktatur«, machte er verblüffende Ähnlichkeiten zwischen dem Hitlerregime und der DDR aus.
Was nach Aberwitz und fortgeschrittener Senilität klingt, ist in Wirklichkeit der ordinäre Abklatsch von Friedrich August von Hayeks in der politischen Kultur der BRD omnipräsenten Rechtfertigungsideologie für die Durchsetzung einer Marktwirtschaft, der nicht mehr das Adjektiv »sozial« vorangestellt werden muss. Dazu gehört eine Täter-Opfer-Umkehrung und -Umschuldung. Hayek, führender Kopf der Mont Pèlerin Society, veröffentlichte nicht zufällig 1944 (zu einem Zeitpunkt, als der Faschismus sich durch einen Holocaust an den Juden und Massenmord u.a. an Kommunisten welthistorisch endgültig delegitimiert hatte) mit »Weg zur Knechtschaft« eine Kampfschrift gegen die marxistische Linke, in der der »Nationalsozialismus« als »Fortentwicklung des Sozialismus« und »Zusammenschluss der antikapitalistischen Kräfte der Rechten und der Linken« definiert wurde, die im »Kollektivismus vereint« seien.
Und so wettert Biermann nur gegen vermeintlich russlandfreundliche Faschisten, etwa in der AfD, für die der westliche Imperialismus derzeit keine Verwendung hat, um eine diabolische Vergleichsgröße für seine von Hayek übernommenen Totalitarismustheorien gegen den Kommunismus zu haben. Biermanns Gepolter gegen die Rechten ist bestenfalls Ausdruck der für prowestliche Faschisten völlig unschädlichen »antitotalitären« Nazigegnerschaft, die in den Veröffentlichungen der Verfassungsschutzämter und der vorwiegend von der Bundesregierung finanzierten Amadeu-Antonio-Stiftung propagiert wird – nicht zuletzt, weil sie sich als wirksames Antidot gegen den marxistisch geprägten historischen Antifaschismus der Arbeiterbewegung und durchaus nützlich fürs Monopolkapital und dessen imperialistische Kriege erweist.
»Hayeks großes Lebensthema war die Freiheit, vor allem, aber eben nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, und genau deshalb lohnt sich die Beschäftigung mit seinen Ideen gerade heute«, würdigte Olaf Scholz in seiner Festrede zum 80-jährigen Jubiläum des Erscheinens von »Weg zur Knechtschaft« den Hohepriester des Neoliberalismus, der in den 1970er-Jahren als Berater des faschistischen Schlächters Pinochet fungiert hatte. Bei dieser Gelegenheit stellte der Bundeskanzler auch klar, dass der Weg ins Reich der »Freiheit«, die er meint, nur über einen Bombenteppich führen kann. »Zwei Flugstunden von hier verteidigen die Ukrainerinnen und Ukrainer ihr Land, ihre Freiheit gegen den andauernden russischen Angriff.« Daher unterstütze Deutschland die Kiewer Regierung.
Antiglobkestaat
In der »Zeitenwende« zum Bekenntnis zu militärischer Gewalt als Mittel des freien Wettbewerbs und zur dafür notwendigen infernalen Allianz mit Faschisten, kennen die Herrschenden nicht nur keine Parteien, sondern auch keine Deutschen mehr, nur noch Biermänner. Würde es Biermann nicht geben – man müsste ihn durch KI erschaffen. Zur volksgemeinschaftlichen Formierung der Bevölkerung zur Marschkolonne des nächsten großen imperialistischen Kriegs bedarf es stets Exorzisten, die den lohnabhängigen Massen auch noch den letzten Gedanken an Klassensolidarität austreiben, ebenso zynischer Spötter und bösartiger Verleumder der Hoffnung auf die überlebensnotwendige Errichtung einer menschlichen Gesellschaft.
Da während der intensiven Anstrengungen, Deutschland wieder kriegstüchtig zu machen, für das Todesurteil gegen die Intellektuellen keine Berufung mehr zugelassen ist und das Gros der Liedermacherkollegen ohnehin mit dem aufopferungsvollen Kampf für das Recht beschäftigt ist, die verordnete Meinung der Ampelregierung zu übernehmen, muss der »größte Drachentöter der Nachkriegsgeschichte« keine Konkurrenz von links mehr fürchten. Aus Mangel an Alternativen bleibt dem Publikum nichts anderes übrig, als sich mit Biermanns abgedroschenen Kalauern, narzisstischen Sprechdurchfällen und Nonsensgebrabbel zu begnügen. Das garniert er bis heute mit »Trotz alledem«-Gerede, falsch nach Liebknecht, und schrägen Verweisen auf Gramsci und andere Revolutionäre, bevorzugt aber mit ins Prokrustesbett der Neocon-Ideologie gezwängten Zitaten des bekanntesten Lyrikers der DDR – schließlich weiß Biermann: »Unser Brecht, er war nie ein Kommunist.« So lässt er in seinen Oden Vitali Klitschko (Schützling von Bild TV und der Konrad-Adenauer-Stiftung) und andere Rechte als Che Guevaras erscheinen, und die erbärmlichste Kriecherei vor dem Bestehenden klingt nach radikalem Einspruch. Die Lettristische Internationale hielt einst fest: »Überall, wo die Reaktion triumphiert hat, tat sie es durch Sinnentfremdung oder Parodie revolutionärer Ideen.«
Das wachsende falsche Bedürfnis nach Entwöhnung von kritischer Intelligenz befeuerte im vergangenen Jahr Zeit Online mit einem Podcast-Marathon unter dem Titel »Wolf Biermann, warum sind Sie kein Kommunist mehr?« – ein Geschenk zu seinem 87. Geburtstag. Bereits im Vorspann beantwortete der Künstler diese Frage im Duktus des Kollektiven-Westen-»Wirs« (das einzige Wir, das er noch duldet) mit Liedzeilen wie »Wir steigen aus der Atomkraft aus, und der steigt mit der Bombe ein, den roten Knopf drückt er allein« über die NATO, die derzeit über 5.759 Nuklearsprengköpfe verfügt, und »das Hitler-Stalin-Monster« Putin mit »Todesfurcht vor einer Frau, die ›Freiheit‹ heißt, weil sie Freiheit heißt«. In der sieben Stunden und 40 Minuten dauernden Sendung wurde von einem der Moderatoren – freilich unbedacht – ein wahrer Satz gesagt: »Sie sind ja im Grunde berühmt geworden, weil sie verboten waren, und dann im Westen publiziert haben.«
Vor diesem Hintergrund ergibt sich ein Sinn für den Titel vom demnächst erscheinenden Coveralbum des Westliche-Werte-Lyrikers, der »zur Legende ohne Totenschein«, so Biermann, bescheiden wie er ist, über Biermann, geworden ist – aber nur weil er den Sozialismus mit schlechten Reimen von rechts angreift. »Lieder für jetzt« affirmieren die Gegenwart eines Deutschlands, das sich mit militaristischem Staatsumbau und der Erneuerung seines fatalen Pakts mit dem Bandera-Faschismus zum sekundären Globkestaat gemausert hat. Vor diesem hatte Stephan Hermlin in dessen primärer Form als Frontstaat der USA und des Westens im Kalten Krieg eindringlich gewarnt. »Ich erinnere mich noch sehr genau an das ekelerregende Schauspiel einer sogenannten nationalen Erhebung, das ich am 30. Januar 1933 als ganz junger Mensch am Brandenburger Tor erlebte«, heißt es in dem bedrückend aktuellen offenen Brief des Schriftstellers vom 17. August 1961 an Günter Grass und Wolfdietrich Schnurre, die kritisiert hatten, dass er nicht gegen den Mauerbau protestiert hatte. »Hätten damals am Brandenburger Tor rote Panzer gestanden, wäre der Marsch nach dem Osten nie angetreten worden«, so Hermlins Erklärung, warum er, trotz Einschränkung der Reisefreiheit und des Kulturaustauschs, auf die DDR baute: Nur der »Antiglobkestaat« hatte die Macht, den Frieden durchzusetzen, »der das dringendste Anliegen ist, weil er allein angetan ist, den gefährlichsten Staat der Welt, die Bundesrepublik, auf ihrem aggressiven Weg zu bremsen«.
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