Melodie & Rhythmus

Auf Ostfrontlinie gebracht

30.03.2022 12:59
»Die Anstalt«, 8.3.2022; sowjetische Kriegsgefangene in Charkow, 1942; Michael Douglas, Annual Screen Actors Awards, 27.2.2022 (v.l.)Fotos (Montage): Picture Alliance / ZB / Berliner Verlag / Archiv, Imago / Javier Rojas / Zuma, Screenshot: Die Anstalt via ZDF

»Die Anstalt«, 8.3.2022; sowjetische Kriegsgefangene in Charkow, 1942; Michael Douglas, Annual Screen Actors Awards, 27.2.2022 (v.l.)
Fotos (Montage): Picture Alliance / ZB / Berliner Verlag / Archiv, Imago / Javier Rojas / Zuma, Screenshot: »Die Anstalt« via ZDF

Nationalistische Parolen, Geschichtsklitterung, Hassexzesse, sogar Begeisterung für den totalen Krieg – einer wachsenden Zahl von Künstlern und Intellektuellen ist offenbar jedes Mittel recht, um sich der neuen Volksgemeinschaft gegen Russland anzudienen

Susann Witt-Stahl

Atombombenstimmung sollte aufkommen auf dem Bebelplatz am 6. März in Berlin. Und so war Yuriy Gurzhy intensiv bemüht, sie anzuheizen. Wenn er nicht gerade an einer Kompilation mit Nationalisten aus seinem Heimatland arbeitet, die der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) – Kollaborateuren Hitlerdeutschlands im Zweiten Weltkrieg – huldigen, ist der Ukrainer Sänger und Gitarrist der keineswegs linken Band Rotfront. Gurzhy versuchte, die Teilnehmer der Kundgebung »Für eure und für unsere Freiheit« – initiiert von Gerd Koenen, Claus Leggewie und anderen Publizisten und gefördert vom Zentrum Liberale Moderne der grünen Neocons Marieluise Beck und Ralf Fücks – zu einem Call and Response zu animieren: »Russki korabl (Russisches Schiff) …!« schmetterte er zu stumpfem Discosound den ersten Teil eines Satzes dem Publikum entgegen, das mit dem zweiten Teil »… idi na chui (… fick dich)!« antworten sollte. Dieses Zitat stammt angeblich von einem der auf der Schlangeninsel im Schwarzen Meer stationierten ukrainischen Soldaten, die laut Propaganda der Kiewer Regierung am ersten Tag des russischen Angriffs lieber den Heldentod gestorben sein sollen, als sich zu ergeben (wie selbst die ukrainische Flotte bestätigte, sind in Wahrheit alle am Leben und in russische Gefangenschaft gegangen). Die wichtigste Botschaft stimmte Gurzhy einige Takte später an: »Flugverbotszone jetzt!« – objektiv eine Beschwörung des dritten Weltkriegs.

Immer mehr Künstler und Intellektuelle agieren nach dem Motto »Krieg ist Krieg«, also »Bumsti!«, wie es in Karl Krausʼ »Die letzten Tage der Menschheit« heißt. Viele verstehen den Titel der bitterbösen Satire über die Kriegsgeilheit der Herrschenden und ihrer Lakaien offenbar programmatisch und verkaufen die Dystopie der »letzten Tage« als hocherotisches Erlebnis. Was vor acht Jahren nach dem Regimechange in Kiew mit einem Feldzug der ukrainischen Armee und der nationalistischen Freikorps gegen die aufständische Bevölkerung in der Donbass-Region begonnen hatte und nun durch den völkerrechtswidrigen Einmarsch der russischen Armee eskaliert ist, reicht ihnen offenbar nicht: Der Ukraine-Krieg soll ein totaler werden.

An der deutschen Heimatfront formiert sich indes eine ganze Legion von Schriftstellern, Musikern und Schauspielern und verbreitet eine kolossale Schützengrabenlaune, wie sie seit dem »Wunschkonzert für die Wehrmacht« nicht mehr zu erleben war. Bei einer prominent besetzten Literatenlesung, unter anderem mit Herta Müller, Durs Grünbein, Thomas-Mann-Preisträgerin Nora Bossong und PEN-Präsident Deniz Yücel im Gorki- Theater in Berlin, dirigierte der Historiker Karl Schlögel sogar einen »Slawa Ukrajini (Ruhm der Ukraine)!«-Sprechchor aus Mitwirkenden und Publikum. Die offizielle Grußformel der ukrainischen Armee stammt von den faschistischen Banderisten, die 1943 und 1944 in Wolhynien und Ostgalizien mehr als 100.000 Polen, darunter viele Juden, massakriert und auch Wachmannschaften für deutsche Vernichtungslager in Weißrussland gestellt hatten. Nun schallt sie seit einigen Wochen ausgerechnet auf Friedensdemonstrationen aus Zigtausend Kehlen einer wiedererwachten deutschen Volksgemeinschaft gegen Russland. Nicht nur diese mehr als irritierende frenetische Begeisterung ihrer Anhänger für die ukrainische Version von »Sieg Heil!«, die bizarrerweise vereinzelt sogar schon zu John Lennons »Imagine« gegrölt wurde, sondern auch die glühende Verehrung der Heroen der ukrainischen Armee indiziert: Die Gunst der Stunde wird reichlich genutzt, um auch noch die letzte Hemmung abzubauen und Hochrüstung, Militarismus und Krieg zum Prinzip der deutschen »wertebasierten« Außenpolitik zu erheben. Die Ausladungen russischer Vertreter von Gedenkveranstaltungen für sowjetische Kriegsgefangene, die in deutschen KZs ermordet worden waren, vermitteln einen ersten Eindruck, mit welcher Schamlosigkeit sich bei dieser Gelegenheit auch der lästigen NS-Vergangenheit entledigt wird – die, was die Menschheitsverbrechen gegen die russische Bevölkerung anbelangt, in der westgebundenen BRD bis heute nicht einmal halbherzig aufgearbeitet wurde. Je weniger Sühne, desto mehr rasender Revanchismus: Die blinde Identifikation mit den Kiewer Truppen als »Wehrmacht 2.0«, auf die pathisch deutsche Sehnsüchte projiziert werden, die 1945 wohl nur scheinbar endgültig auf den Seelower Höhen zerborsten waren, erinnert an den deutschen Jubel für den Vorstoß der israelischen Armee im Sechstagekrieg 1967. »Nicht die Einsicht in die eigenen Verbrechen, sondern der israelische Blitzkrieg, die Solidarisierung mit der Brutalität […] führte zu fragwürdiger Versöhnung. Wäre Israel ein sozialistisches Land, kein Zweifel, diese Sympathien gäbe es nicht«, kommentierte Ulrike Meinhof damals die ersten Langzeitfolgen der nie abgeschlossenen Entnazifizierung, die nun in der Ukraine- Krise so gewaltig durchschlagen wie nie zu vor. »Die deutsche Dämonisierung Russlands beruht auf einer Mischung aus Antikommunismus und der verdrängten Schuld am Völkermord an 27 Millionen Russen«, befand unlängst der Autor Gotthilf Freudenreich in einem bemerkenswerten Essay mit dem Titel »Der kollektive Schatten Deutschlands. Oder: Wieviel Faschismus steckt immer noch in uns Deutschen?«.

Bereits Wochen vor der russischen Invasion in die Ukraine verbreitete das Internationale Literaturfestival Berlin ein von Burghart Klaußner und dem hinlänglich als NATO-Lobbyisten bekannten Wolf Biermann verfasstes »Statement zur Aggression Russlands gegen die Ukraine«; es wurde von Hunderten internationalen und deutschen Künstlern, Wissenschaftlern und Publizisten, darunter Uwe Tellkamp, Jürgen Flimm, Hannes Jaenicke, Johano Strasser, Christian Redl, Imre Török, unterzeichnet. Darin machten die Initiatoren keinen Hehl daraus, dass sie den russischen Präsidenten schon allein deshalb zum neuen Hitler auserkoren haben, weil »er den Untergang der totalitären Sowjetunion als ›Tragödie‹ bezeichnet« hatte.

Tucholskys Feststellung »Mars ist blind und hat keinen Kopf« gilt auch im linken Künstlermilieu, das sich selbst auf Ostfrontlinie gebracht und sich in den humanitären Einsatz gegen den dramatischen Waffenmangel in der Ukraine begeben hat. Leander Sukov, stellvertretender Vorsitzender des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller, dem es bisher mit seinen holperigen Küchenkalender-Reimen nicht so recht gelingen will, als Literat auf sich aufmerksam zu machen, brilliert jetzt mit Tiraden gegen einen vermeintlichen »Chamberlainismus« und mit militärstrategischen Ratschlägen: »Es ist logisch sinnvoll, der russischen Armee jetzt möglichst hohe Verluste zuzufügen.« Außerdem möchte Sukov vermeintliche »Reflex-Antiwestler« aus der Linkspartei heraussäubern, verbreitet alternative Fakten (»Putin lässt ein AKW bombardieren«) und hat einen Telegram-Kanal verlinkt, auf dem die ukrainische Armee getötete, gefangene und zum Teil offensichtlich misshandelte russische Soldaten öffentlich zur Schau stellt – ein eindeutiger Verstoß gegen die Genfer Konvention von 1949.

Auch die ZDF-Satiriker der »Anstalt« strecken ihre Hälse nach der vom Bundeskanzler proklamierten Zeitenwende. In ihrer »Sonderausgabe« zum Krieg vom 8. März servierten Max Uthoff und Claus von Wagner ihrem Publikum opportunes Staatskabarett vom Feinsten, garniert mit Peace-Symbol und einem blau-gelben Feuerwerk gegen vom Kreml gleichgeschaltete Medien, vor allem aber gegen eine Bedrohung, die nun plötzlich überhaupt nicht mehr von der NATO, sondern allein vom »russischen Imperium« ausgeht. Kein Wunder, denn in der Vergangenheit sei bereits »jeder demokratische Aufbruch von sowjetischen Panzern quasi niedergemäht worden«, meinte von Wagner und stellte schon einmal klar, warum Satire fortan ohne Antikommunismus gar nicht mehr geht – und noch weniger mit »falscher Zurückhaltung« gegenüber dem neuen alten Hauptfeind, der nun auch für linke Künstler nicht mehr im eigenen Land steht. »Putin, wir werden dich in einem Ausmaß lächerlich machen, wie du’s noch nicht erlebt hast« – soversuchten sie allen Ernstes als Satire an den Mann zu bringen, was auf Bild-TV seit Jahren rund um die Uhr läuft: Der russische Präsident ist »hässlich«, hat ein kleines Gemächt und war noch nie etwas anderes als ein »faschistoider Kriegstreiber«. Die Ukraine dagegen, deren bis heute fortschreitende Faschisierung Uthoff und von Wagner 2014 noch in einer Sendung kurz nach dem vom Westen gestützten Putsch gegen den gewählten Präsidenten Wiktor Janukowitsch skandalisiert hatten, erklärten sie nun für demokratisch und »neutral«. Kein Wort mehr vom Rechten Sektor und Bataillon Asow; für die neue »Anstalt«, die nur noch Demenzpatienten kritisch unterhalten kann, gibt es dort keine Nazis mehr – nirgendwo.

Die grenzenlose Profitlogik des Kapitalismus ermöglicht es, dass die reale Tragödie der unter Kriegsgewalt leidenden Menschen in der Ukraine ohne jede Schonfrist direkt in die Farce ihrer kulturindustriellen Vermarktung übergeht: Kaum hatten die Sender erste Kriegsbilder übertragen, wurden sie schon für die PR von Hollywoodstars ausgeschlachtet: Nachdem sie auf den roten Teppichen aller möglichen Galas NATO-patriotisch Flagge und aufopferungsvollen Einsatz für die Menschen in der Ukraine gezeigt haben – »starker Auftritt für Demokratie und Freiheit: Michael Douglas trug ein blau-gelbes Einstecktuch« (Bild) –, entdecken hierzulande immer mehr Prominente, dass sich selbst das schrottigste Image mit einem blau-gelben Anstrich aufpolieren lässt. So drückte Cathy Hummels, Moderatorin der Reality- Kuppelshow »Love Island«, ihre »Solidarität« mit der Ukraine durch Fotos aus, auf denen sie in einem todschicken blauen Outfit mit farblich perfekt abgestimmter Designer-Handtasche in Hellblau freudestrahlend vor einer gelben Wand posiert. Angesichts eines geschichtsvergessenen Deutschlands in Sportpalastredenlaune und einer suizidalen Weltordnung, die in Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ebenjene Politik suspendiert hat, ist selbst das – einst zu beklagende – Schweigen der Musen im Donner der Kanonen als begehrenswerter Zustand zu betrachten.

Der Beitrag erscheint in der Melodie & Rhythmus 2/2022, erhältlich ab dem 1. April 2022 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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