Melodie & Rhythmus

Einen Weg aus der Hölle finden

28.06.2016 14:34
Illustration: Eva Schönfeld

Illustration: Eva Schönfeld

Es ist schwer, über Syrien zu sprechen, über ein Land, das, so die Vereinten Nationen, von der größten humanitären Krise seit dem Zweiten Weltkrieg betroffen ist. Noch schwerer ist es, etwas über das kulturelle Leben hier zu sagen. Auf der einen Seite finden schwere Kämpfe statt, unter denen vor allem die Zivilbevölkerung leidet, auf der anderen Seite versuchen die Menschen zu überleben und sehnen sich nach einem normalen Alltag. Daher ist es, wenn du in Damaskus wohnst, nichts Außergewöhnliches, dass du monatlich zu Dutzenden kulturellen Events eingeladen wirst: Theater, Kino – und natürlich auch Live-Musik. Eine Veranstaltungsreihe, die mich besonders interessiert, nennt sich »Laqona ala al-Tariq«, was so viel heißt wie »Trefft uns auf der Straße«.

Alles begann vor fünf Jahren, mit Musikabenden in einem kleinen Kulturcafé in der Altstadt, das sich »Beit al-Hanin« (Haus der Nostalgie) nennt. Doch von Anfang an war die kleine Gruppe von Musikern, die sich zusammengefunden hatte, um die Abende zu organisieren, auch an Outdoor-Veranstaltungen interessiert – sie wollten live auf der Straße performen, so wie sie es schon in anderen Ländern gesehen hatten.Allerdings war es 2012 in Syrien sehr viel schwieriger als in anderen Ländern, solche Events auf die Beine zu stellen: Die Leute blieben meistens in ihren Häusern und versuchten, sich nicht in Gefahr zu begeben; doch man gewöhnt sich mit der Zeit an alles, auch an einen permanenten Kriegszustand, und so begannen die Leute bald, die Konzerte zu besuchen. Der Gründer der Gruppe, Nawar Esmander, sagt heute: »Das Projekt wirkte wie ein kultureller Motor, es half jungen Musikern, zu Bands zusammenzufinden, bekannter zu werden und etwas mit ihrer Kunst zu verdienen.«

Es war kein leichter Weg – so wurden etwa die Finanzierung und die Erlaubniserteilung der Behörden, überhaupt solche Events durchzuführen, zum Problem. Doch die Konzerte wurden immer beliebter. Das hat dabei geholfen, Schwierigkeiten wie die Genannten zu überwinden. Junge Musiker konnten nun live vor einem richtigen Publikum spielen. Sie erhielten Unterstützung von verschiedenen Seiten und arbeiteten mit professionellen Musikern und Sängern zusammen, etwa mit Missak Baghboudarian, dem Leiter des Nationalen Symphonieorchesters, mit Simon Mreach, Schlagzeuger und Musiklehrer an der Hochschule für Musik in Damaskus, oder mit der Opernsängerin Manar Khweis.

So konnten bisher mehr als 15 Veranstaltungen in Damaskus stattfinden. Herausragend waren ein Konzert bei der Umayyaden-Moschee, eine Musiknacht im Hof des Azim-Palasts, deren Erlös Kindern zugutekam, die mit ihren Familien vor dem blutigen Konflikt fliehen mussten, und ein Event in der Kreuzkirche zur Unterstützung von Versehrten und Behinderten. Dass die Organisatoren den Fokus auf Charity-Events legten und politische Belange beiseite ließen, hat sicher zur Akzeptanz der Veranstaltungen beigetragen. In der komplizierten Situation, in der wir uns in Syrien derzeit befinden, erfahren nämlich viele Bands, die eine klare politische Botschaft haben, keine Solidarität oder Unterstützung. Das hat zum einen mit der starken Polarisierung zu tun, die die Politik des Landes im Krieg erfährt, zum anderen ist es wohl auch einfach eine natürliche Konsequenz der engen Grenzen, die politischer Aktivität in Syrien gesetzt sind – über Jahrzehnte war sie ja praktisch nicht möglich.

Wir leben kein normales Leben. Wir gehen nicht aus, um den Krieg nicht wahrnehmen zu müssen, um so zu tun, als ob nichts Schlimmes um uns herum passieren würde. Wir nehmen die politische und humanitäre Krise, die das Land erschüttert, sehr ernst. Viele Leute haben einen hohen Preis dafür bezahlt, einen Weg aus der Hölle dieses Krieges zu finden.

aalaAlaa Abo Farraj wurde 1988 in Suweida geboren, lebt heute in Damaskus und berichtet als Journalist und Fotograf in lokalen Medien über das Kulturleben in Syrien.
Foto: Hussain Khadour

Die Kolumne lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 4/2016, erhältlich ab dem 1. Juli 2016 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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