Melodie & Rhythmus

»Eine neue Flamme«

19.03.2024 13:31

Deutsche Zustände an der Schwelle von der liberalen zur repressiven »Volksgemeinschaft«

Susann Witt-Stahl

Soldaten bei der Mobilmachung zum I. Weltkrieg

Das »Augusterlebnis« 1914 war die erste Sternstunde der deutschen »Volksgemeinschaft«
Foto: Bundesarchiv, Bild 183-25684-0004 / CC-BY-SA 3.0

Die kritische Öffentlichkeit hat Sendepause seit Ausrufung der »Zeitenwende«. Was sich schon vorher meist auf Druck des totalen Medienmarktes, der von einer Handvoll Konzernen beherrscht wird, durch Selbstzensur gleich ausrichtete, marschiert jetzt in geschlossener Formation. Wo man einst wenigstens bemüht war, Reklame für die »Freedom and Democracy« der NATO mit bürgerlicher Aufklärung zu vereinbaren, walten jetzt Westliche-Werte-Tugendwächter, um gefällige Stichworte für die Kriegspropagandisten aus den Denkfabriken und der Politik zu geben. Kommen ausnahmsweise Gegner zu Wort, entgleisen Interviews regelmäßig zu Verhören – bis der Delinquent ein Loyalitätsbekenntnis abgibt. Dass sich fundamentale linke Opposition artikuliert, wie es noch in der politischen Kultur der Bonner Republik bedingt möglich war, wird nicht einmal mehr in Erwägung gezogen.

»Nicht mehr selber denken müssen, sich lenken lassen«, beschrieb der Schriftsteller Romain Rolland das bittere Aroma des Alltags in einer gleichgeschalteten Gesellschaft nach der »fast restlosen Abdankung der Intelligenz« im Ersten Weltkrieg. »Sie haben für selbstsüchtige, politische oder soziale Parteiinteressen gearbeitet, für einen Staat, für ein Vaterland oder für eine Klasse«, bescheinigte er den Musen, die sich heute mehr denn je im Würgegriff der Medien finden. Wer nicht pariert, wird gecancelt, aussortiert und schließlich totgeschwiegen.

Um die Massen nicht vorwiegend, wie in der kapitalistischen Ordnung vorgesehen, sondern ausschließlich in den Dienst einer Klasse zu stellen, wie diese es im Kriegszustand einklagt, um dem »deutsche Interessen« genannten Verlangen des westlichen Monopolkapitals nachzukommen, bedarf es der Rekrutierung, Disziplinierung des bürgerlichen Individuums und der Synchronisierung seines Bewusstseins mit den Befehlen der militärischen Kommandostruktur. Das muss unter Hochdruck laufen, wenn man, wie es derzeit geschieht, den »Wechsel von der Friedensdividende zur Kriegswirtschaft« vollziehen will, unter anderem durch das »European Defense Industry Programme« der EU-Kommission (das unter anderem die Erzwingung von Rüstungsproduktion, selbst die Beschlagnahmung von Waffen und anderem Kriegsgerät, ermöglicht). Durchgepeitscht von einer deutschen Präsidentin, die vor zwei Jahren das »Wir« der von ihr zur »Weltgemeinschaft« erhobenen NATO- und EU-Mitgliedstaaten gegen den Erzfeind Russland proklamiert hatte.

»Wenn wir uns unterhaken und zusammenhalten, sind wir stark«, brach Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) diese Beschwörungsformel für die deutsche Gesellschaft herunter – mit einer Metapher, die das ihr vertraute »Ein Prosit der Gemütlichkeit«-Gefühl der fröhlich schunkelnden Feiergemeinde aufkommen lässt. Scheinbare Geborgenheit ist eine Zutat des wirkungsvollsten Antidots gegen jeden Versuch der Lohnabhängigen, ihre eigenen Interessen zu erkennen: die »Volksgemeinschaft«. Diese herzustellen, wird dringlich, sobald »der Sozialstaat kleiner ausfallen muss«, wie unlängst der Präsident des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Clemens Fuest, verkündete: »Kanonen und Butter – das wäre schön, wenn das ginge, aber das ist Schlaraffenland.« Bereits im April 2022 hatten der Vorsitzende des Arbeitgeberverbands (BDA), Rainer Dulger, und der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Reiner Hoffmann, den von Scholz angemahnten »Geist der Gemeinsamkeit« von Arbeit und Kapital demonstriert, »sozialpartnerschaftlich« die Prioritäten gesetzt und rationale Mittel, »eine stabile Wirtschaft und einen stabilen Arbeitsmarkt«, einem irrationalen Zweck, der militärischen und ökonomischen Unterstützung der Ukraine gegen Russland, untergeordnet.

Das »Augusterlebnis« und die Überwindung des Klassenkampfs

Das Konzept der »Volksgemeinschaft« stammt nicht von den Nazis, wie vielfach behauptet. Bereits im März 1924 hatte der Großindustrielle Ernst von Borsig auf einer Tagung des Reichsverbands der Deutschen Industrie die Parole »Volksgemeinschaft statt Klassenkampf« ausgegeben und damit auch die wichtigste Funktion von ersterer benannt. Wie der Historiker Karsten Heinz Schönbach hervorhebt, geschah dieses zu einem Zeitpunkt, als Hitler politisch noch ein Niemand war.

Der Begriff »Volksgemeinschaft« tauchte sogar schon 1791 in einer deutschen Übersetzung der 1689 veröffentlichten Abhandlung »An Essay Concerning Human Understanding« von John Locke, dem Gründervater des Wirtschaftsliberalismus auf. Wie zuvor schon Thomas Hobbes, betrachtete der Philosoph den Krieg »aller gegen alle« als ein unveränderliches Grundprinzip der Gesellschaft. Locke befürwortete nicht nur die Kinderarbeit ab einem Alter von drei Jahren, sondern auch den Zwang der Besitzlosen zum Militärdienst.

Zukünftig sollte die erstarkende Idee einer wirklichen Volksregierung von den Wirtschaftsliberalen mit einer zunehmend ausgeklügelten Ideologie der »Volksgemeinschaft« bekämpft werden – einer Illusion der von der Unterklasse ersehnten Inklusion, die dazu diente, sie noch rücksichtsloser, auch als Kanonenfutter, auszubeuten. Als erste Sternstunde der »Volksgemeinschaft« ist das »Augusterlebnis« der zur Hysterie gesteigerten nationalistischen Emphase von 1914 nach der Zustimmung der Sozialdemokraten zu den Kriegskrediten, mit der sie ihren wenige Tage vorher formulierten Imperativ »Nieder mit dem Kriege! Hoch die internationale Völkerverbrüderung!« hinwegfegten, zu betrachten. Die SPD wurde deutschnational, der Volksbegriff seines plebejischen Kerns entschlagen, die »Volksgemeinschaft« von ihrem Vorsitzenden Friedrich Ebert in Stellung gebracht, um dem Schein des überwundenen Klassenkampfs Vorschub zu leisten, statt die Klassenstruktur anzutasten. »Die Arbeiter haben sie nicht mehr interessiert, nur noch das Volk«, so der Sozialwissenschaftler Klaus Gietinger, der in seinem Buch »Eine Leiche im Landwehrkanal. Die Ermordung Rosa Luxemburgs« den Ereignissen um die Niederschlagung der Novemberrevolution unter Führung der Sozialdemokratie nachgegangen ist.

In der Weimarer Republik stellten die Denker der »Konservativen Revolution«, die von einem mit rassischen und eugenischen Vorstellungen verknüpften Elitismus getriebenen waren, die ideologischen Weichen für die faschistische »Volksgemeinschaft«. Diese unterscheidet sich von der liberalen vor allem darin, dass sie mehr auf Exklusion als auf die falsche Harmonisierung der Widersprüche »über alle Klassen hinweg« setzt. Ausgeschlossen werden sollten die »farbige Gefahr«, die die »weiße Welt« zunehmend bedrohte, wie die »geistig, seelisch und leiblich Unnormalen«, aus deren »Nachwuchs sich das revolutionäre Proletariat mit dem Hass der Schlechtweggekommenen« und dem »Geschrei gegen den Krieg« entwickelte, skizzierte der Philosoph Oswald Spengler 1933 die Grenzen nach unten und nach außen. Das von den – durch Friedrich Nietzsches Herrenmoralphilosophie inspirierten – Rechtskonservativen angestrebte Ziel, die Durchsetzung eines Herren-Sklaven-Verhältnisses vom Kapitalisten zum Arbeiter, wurde durch das den fundamentalen Unterschied zwischen Ausbeuter und Ausgebeuteten verschleiernde Ideal der nationalen »Werkgemeinschaft« verbrämt.

Der deutsche Faschismus an der Macht konnte laut einer Studie des Historikers Hans-Ulrich Thamer darauf bauen, dass die »Volksgemeinschaft« schon längst zur »beherrschenden politischen Deutungsformel« aufgestiegen war. Da er zur Mobilisierung für den nächsten großen Krieg eine solide Massenbasis benötigte, wurden die Ästhetisierung der »Volksgemeinschaft« und ebenso die Hypostasierung der seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend Bedeutung gewinnenden völkischen Komponente – etwa durch »Blut-und-Boden«-Ideologie – zur Notwendigkeit. Die Arbeit in der »Volksgemeinschaft« sollte nicht »neu organisiert«, sondern »verschönt« werden, so der israelische Historiker Ishay Landa. »Wenn Arbeit unter der verhassten Herrschaft des Liberalismus als Last empfunden wurde, wird unter den Nationalsozialisten zunehmend klar, dass sie in Wahrheit frei macht.« Hitler hatte die deutschen Großunternehmer aufgrund ihrer »Tüchtigkeit« zur »höheren Rasse« erklärt. Der Nazismus kompensierte schließlich den von Domenico Losurdo so genannten »vertikalen Rassismus« der totalen Klassenherrschaft propagandistisch mit einem »horizontalen Rassismus«, der alle »Arier«, unabhängig von ihrer sozialen Stellung, zu Angehörigen der »Volksgemeinschaft« erklärte und sie über andere »Rassen« stellte. »Dies war alternativlos unter den Bedingungen der Moderne, in der nicht einfach über die Massen hinweggegangen werden kann«, so Landa über die neuen Herausforderungen auch unter den Bedingungen der technischen Reproduzierbarkeit und Verbreitung von Medien- und Kulturindustrieprodukten der Kulturindustrie. »Die Büchse der Pandora war bereits geöffnet, die Dämonen des Demos konnten nicht einfach auf ihren Platz verwiesen werden. Es musste also eine andere Gesinnung geschaffen werden, um das Volk zu sammeln und eine Alternative zu der Zugehörigkeit zu Massen und Klassen anzubieten.«

»Neues Wir« versus »CRINK-Allianz«

Unter den historisch spezifischen Bedingungen der NATO-Stellvertreterkriege seit dem »Ende der Geschichte« und der digitalisierten Kommunikationswelt mit ihren scheindemokratischen sozialen Medien ist zur schaurigen Totalität geronnen, was Konrad Heiden, erster kritischer Hitler-Biograf, über die Gesellschaft im »Zeitalter der Verantwortungslosigkeit« vor dem Zweiten Weltkrieg gesagt hat: »Die Menschen dienen fast nicht und die Massen nie ihren Interessen, sondern ihren Illusionen.« Entsprechend nimmt die Bedeutung der »Volksgemeinschafts«-Ideologie zu – sie wird zum Ideologieprojektil der Ganzheitskriegsmaschine, die längst die letzten Grenzen zwischen Politik und Schaugeschäft, Realität und Schein, niedergewalzt hat. Wo einst darstellende Kunst bis ins Mark erschütternde Aufschreie gegen den imperialistischen Krieg ausstieß, erziehen heute dessen Influencer die Menschen zur »Resilienz«: So erklärte Bild-Chefredakteur und »Kriegsreporter« Paul Ronzheimer dem Publikum des Deutschen Theaters in Berlin, wie »wir uns für eine anbrechende Zeit, die dunkel anmutet, wappnen«.

Die »Demonstration« von »Einigkeit und Entschlossenheit«, so von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik als Gebot der historischen Stunde für die westlichen Staatenlenker formuliert, wird auch vorwiegend via Medien der Bevölkerung oktroyiert: »Wir brauchen eine Zeitenwende in unseren Köpfen«, forderte Manfred Sapper, Chefredakteur der Zeitschrift Osteuropa. »Wir haben in der breiten Gesellschaft noch gar nicht verstanden, in welcher Konfrontation mit Russland wir uns befinden.« Auf die Veröffentlichung des abgehörten TAURUS-Gesprächs von hochrangigen Offizieren der deutschen Luftwaffe und die »antideutsche Keule« Russlands müsse mit einem »stärkeren Verzicht« auf »innenpolitischen Streit« reagiert werden, deklassierte Sapper Demokratie und Meinungsvielfalt zum Ballast, den man so schnell wie möglich abwerfen sollte.

Nicht zuletzt um im Namen einer wehrhaften »Volksgemeinschaft« die Axt politisch korrekt an die Säulen des Grundgesetzes legen zu können, ersinnen »Sicherheitsexperten« ein »neues Bündnis des Bösen«, das so außer- und unterirdisch wie möglich erscheinen soll: Ende 2023 hatten Roderich Kiesewetter (CDU) und die Springer-Presse die »CRINK-Allianz« – der Name erinnert nicht zufällig an die Klingonen, ein brutales humanoides Kriegervolk aus der »Star-Trek«-Serie – erschaffen, eine Zusammenrottung asiatischer »Autokratien«, China, Russland, Iran und Nordkorea, die mit Hamas und Co. sogar eigene Barbarenhorden unterhält. Damit sind die auch hierzulande bereits als »Orks« – J. R. R. Tolkiens »untermenschliche« Unterwelt-Bewohner mit ausgeprägtem Plünderungsdrang –, von ukrainesolidarischen deutschen Nazis sogar schon wieder als »bolschewistische Brut« gehandelten Russen, Legion geworden. Unter den Vorzeichen des Spätkapitalismus wird Alfred Rosenbergs Schreckgespenst des globalisierten Proletariats als »aufsteigenden Asphaltmenschen der Weltstädte mit allen Abfallprodukten des Asiatentums« im High-Tech-militärisch-kulturindustriellen Komplex wiedergeboren und zum Hauptdarsteller einer Science-Fiction-Hyperdystopie erkoren.

»Russlands Angriff auf die Ukraine, der terroristische Angriff der Hamas auf Israel hängen unmittelbar zusammen – übrigens war das am Tag von Putins Geburtstag«, hatte die Vorsitzende des »Verteidigungsausschusses« des Deutschen Bundestags, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), vergangenen Oktober Alarm geschlagen. Und China müsse einfach nur abwarten, »bis der Westen durch Russland in Europa und Irans Terrorgruppen im Nahen und Mittleren Osten abgenutzt ist«, um dann über Taiwan herzufallen, meint Kiesewetter. Er erwartet schon bald Terroranschläge und Sabotageaktionen von den Agenten der »CRINK-Allianz« auf die kritische Infrastruktur Deutschlands mit längeren Stromausfällen, die zu Unruhen führen könnten.

In dieser Stunde höchster Not helfe nur eine »gemeinsame Strategie«, um »die regelbasierte Ordnung« durchzusetzen. Dazu gehört für Kiesewetter, die Arbeiter an die Kandare zu nehmen und in der Rüstungsindustrie den Drei-Schicht-Betrieb einzuführen – »oder unsere Zeit läuft im Jahr 2024 ab«. »Iran liefert Hunderte Mittelstreckenraketen, Nordkorea liefert eine Million Artilleriegranaten, die Russen kündigen an, eine Nuklearwaffe im Weltraum zu deponieren – und wir streiten uns im Bundestag darüber, ob wir TAURUS liefern oder nicht«, sehnte sich auch Kiesewetter, in seiner Brandrede auf der »Victory-for-Peace«-Kundgebung zum zweiten Jahrestag der russischen Invasion in der Ukraine (frei nach Kaiser Wilhelm II., der den Reichstag als »Quasselbude« beziehungsweise »Quatschbude« bezeichnet hatte) nach den guten alten Zeiten von Parlamenten ohne Debatten und bot auch gleich eine passende Alternative an: »Wir brauchen ein neues Wir, eine neue Flamme, eine Kraft, eine Begeisterung«, donnerte unter dem Jubel einer enthusiasmierten Masse am Brandenburger Tor. Dieses deutsche »Wir­­« müsse mit Friedrich Nietzsche sagen: »Licht wird alles, was wir fassen, Kohle alles, was wir lassen«, paraphrasierte er diese und weitere Zeilen aus dessen Gedicht »Ecce homo«. »Für die Ukraine gemeinsam! Slawa Ukrajini!«.

»Victory-for-Peace«-Kundgebung am 24.2.2024 vor dem Brandenburger Tor
Foto: IMAGO / Stefan Trappe

Die wahren Deutschen

Die ukrainischen Nationalisten leben vor, wonach sich die deutsche Reaktion verzehrt: Auf dem Euromaidan habe der »Grundkurs ›Einführung in die Volksgemeinschaft mit praktischen Übungen‹« stattgefunden, bemerkte der jW-Autor Reinhard Lauterbach vor zehn Jahren und berichtete von den dort täglich veranstalteten Hopsaktionen: Diese »formulierten eine Trennung: zwischen ›uns‹, den Hopsenden, und ›ihnen‹, den Nichthopsenden – Inklusion und Ausgrenzung gleichzeitig.« Wer nicht mitmachte, war ein »Moskal«, und somit »a priori stigmatisiert«.

Und so sind »wir« im Stellvertreterkrieg gegen Russland nicht nur alle Ukrainer, wie Politiker der etablierten Parteien nicht müde werden zu betonen – die Ukrainer sind auch die wahren Deutschen. Zumindest solange diese dem völkischen Klischee entsprechen, das die faschistische Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) nicht zuletzt nach dem Modell Hitlerdeutschlands kreiert hatte. Es wird heute, durch postmoderne Ästhetik und westliche Werte aktualisiert, auch wieder von ukrainischen Künstlergruppen auf deutschen Theater- und Konzertbühnen verbreitet: In dem weißen galizischen Bauernmädchen im Folklorekleidchen, das ihr Comeback als feministische »Banderivka« (Anhängerin des Bandera-Flügels der OUN) feiert, wie im strohblonden Asowstal-gestählten Donbass-Frontkämpfer erblicken Deutsche das Spiegelbild des »arischen Rassekriegers«, den sie sich so lange »wegen der Vergangenheit« verkneifen mussten.

Die militarisierte »Volksgemeinschaft« der Ukraine löst vor allem bei den Funktionseliten des deutschen Imperialismus glühende Begeisterung aus: »Die Ukraine setzt ihre gesamte Gesellschaft ein in die totale Verteidigung«, heißt es in dem 2023 veröffentlichten Strategiepapier »Wie Russland geschlagen wird. Was die Streitkräfte der NATO von der ukrainischen Landesverteidigung lernen sollten« von dem »Zeitenwende«-Koordinator der Münchner Sicherheitskonferenz Nico Lange (auch Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität München hat mitgewirkt). Darin wird »empfohlen«, folgende Maßnahmen von der Ukraine zu übernehmen: militärische Grundausbildung für große Teile der Gesellschaft, Strategien für die militärische Reserve entwickeln, die die Qualifikationen des zivilen Lebens nutzen, Aufbau von Gemeinschaften für den Heimatschutz. Dringend angeraten wird auch eine erhöhte Kulturindustrieproduktion zu Zwecken der psychologischen Kriegsführung und Propaganda und als gutes Beispiel der Popsong »Die Leichen der Orks wandern unter die Erde, die Streitkräfte der Ukraine helfen dabei« genannt – damit »stärkt die ukrainische Gesellschaft ihren Zusammenhalt, tröstet sich über schwierige Situationen hinweg und fördert ihre militärische Motivation. Dieser Faktor kann für die Gesamtverteidigung nicht überschätzt werden«.

Aggressive Paranoia

Während die NATO sich entschlossen zeigt, die ukrainische Stellvertreterkrieger- »Volksgemeinschaft« ausbluten und notfalls auch zum »Volkssturm« zusammenschrumpfen zu lassen, jagt man hierzulande den »Feind im Innern« – die Vertreter der erschreckend kleinen kritischen Öffentlichkeit, die noch nach Objektivität verlangt. So bezichtigen Regierungssprecher die letzten Journalisten, die durch Interesse an Fakten, Analysen und schlüssigen Argumenten unangenehm auffallen, der Mitwirkung an den russischen »Desinformationskampagnen« zum »Zweck der Zersetzung«, wie unlängst auf einer Bundespressekonferenz geschehen. Ampelhörige Pressevertreter entschuldigen sich bereits, wenn sie überhaupt noch eine Frage stellen, die auch nur irgendwie als unbequem rezipiert werden könnte, und distanzieren sich von ihren nicht willfährigen Kollegen.

Die »fünfte Kolonne« der »CRINK-Allianz« muss konsequent ausgestoßen werden aus den Öffnungen des für die kommenden Kriege gepanzerten »Volkskörpers«. Vom Rathaus bis zum linksautonomen Stadteilzentrum: Wo die Türen stets geöffnet sind für NATO-gestützte Solidaritätskundgebungen für die Selenskij-Regierung und deren von Banderisten durchsetztes Militär oder Netanjahus Hasbara-Armada für Siedlerkolonialismus, Vertreibung und Apartheid, muss das Friedenslager draußen bleiben. Schließlich lauern überall »Putins Spione« und »Hamas-Terrorunterstützer« – selbst die jüngst vom Papst symbolisch gehisste »weiße Fahne« wird zum roten Tuch. Redeverbote für Antiimperialisten und andere linke Kriegsgegner auf Anti-AfD-Großdemonstrationen des »bunten Deutschlands« und seines staatlich gelenkten »Antifaschismus«, der längst auf dem Sprung von der Tragödie zur Farce ist, vermitteln einen Eindruck davon, wie dünn die Schutzschicht einer das Primat des Klassenkampfs verleugnenden Volksfront gegenüber der »Volksgemeinschaft« ist.

Wo diese wütet, landet unweigerlich der »Volksschädling« am Pranger. Immer häufiger melden Anrufer beim MDR-Kriegspodcast »Was tun, Herr General?« mit dem Ex-Kommandeur des Allied Joint Force Command Brunssum der NATO, Erhard Bühler, »verdächtige Figuren« – beispielsweise den Ex-UN-Diplomaten und Friedenspolitiker Michael von der Schulenburg –, unter denen sie »faule Eier« ausmachen, die »staatszersetzende Arbeit im Auftrag einer feindlichen Macht verbreiten«. Auch die gut orchestrierten Verleumdungskampagnen von staatlich finanzierten »Faktencheckern« und »Volksverpetzern«, ebenso Gerichtsverfahren, unter anderem gemäß dem Gummiparagrafen 140 des Strafgesetzbuches wegen »Billigung eines Angriffskrieges« (der grundsätzlich keine Anwendung bei Propagandisten militärischer Beutezüge des Westens findet), zeigen: Der größte Feind im Land ist nicht mehr der Denunziant – es ist der Friedensdemonstrant und alle, die einfach nur aus Vernunftgründen für Verhandlungen und Verständigung eintreten: »Lumpen«- und »Wohlstandspazifisten« wie »Appeaser« – denn sie sind angeblich Chamberlains Nachfolger und wollen nur das eine: dem »neuen Hitler« und den »neuen Nazis« den Weg ebnen.

Die aggressive »Paranoia« – die Adorno einst dem völkermörderisch entfalteten deutschen Nationalismus bescheinigte –, »der Verfolgungswahn, der die anderen verfolgt, auf die er projiziert, was er selber möchte«, erweist sich noch als hochgradig ansteckend. Sie ist auch heute die »Zärtlichkeit« der liberalen »Volksgemeinschaft«, die sich gefährlich nah an die Schwelle zur repressiven – wenn nicht gar zur faschistischen – bewegt, sobald der Imperialismus wieder zum Rüstungsdelirium und totalen Krieg übergeht.

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