Kulturkolonialkrieg gegen Palästina: In Deutschland werden die Stimmen der Unterdrückten zum Schweigen gebracht – mit verheerenden Folgen
Susann Witt-Stahl
Die westlichen Vorstellungen vom Nahen Osten sind bis heute von Orientalismen geprägt. Dazu gehören ebenso Assoziationen zu den Erzählungen aus »Tausendundeiner Nacht« wie exotische Bauchtänzerinnen. Seit dem »War on Terror« nach dem Anschlag auf das World Trade Center in New York 2001 wurden sie mit islamophobe Fantasien beflügelnden Buzzwörtern wie »Dschihad« und »Scharia« angereichert. Entsprechend reduziert das deutsche Feuilleton die Kultur Palästinas auf Kufiya, Intifada, bestenfalls auf den Volksreihentanz Dabke.
So werden innovative Künstler meist gar nicht erst wahrgenommen. Das gilt etwa für das palästinensische Qud-Trio der Gebrüder Samir, Wissam und Adnan Joubran aus Nazareth, das seit seinem Debüt 2005 die arabische Kunstmusik mit ausgefeilten Kompositionen, voller Jazz- und Flamenco-Einflüsse, Improvisationen und virtuosem Spiel revolutioniert. Die Formation, die mit dem Dichter Mahmud Darwisch zusammengearbeitet hat, steht auch für eine neue Ästhetik des palästinensischen Widerstands und eine wiedererwachende Kultur der Unterdrückten. Sie gibt dem »Sumud« (Standfestigkeit), der vor allem seit dem 1967er-Krieg eingenommenen Haltung unerschütterlicher Ausdauer des palästinensischen Kollektivs unter Besatzung, klanglichen Ausdruck – mit einer ungeheuren Dignität, wie etwa in dem elegischen Stück »The Long March« zu hören ist. »In Palästina ist das Leid mit Händen zu greifen«, so Adnan Joubran. Das Trio lässt es mit Stücken wie »Carry the Earth« – das es mit Roger Waters aufgenommen hat und das an vier Kinder erinnert, die 2014 vom israelischen Militär am Strand von Gaza getötet wurden – beredt werden. »Die Situation in Palästina ist eine menschliche Katastrophe«, erklärte Adnan schon 2020 die verzweifelte Lage. »Wir sind die Stimme dieser Katastrophe – lauter als die Stimme jener, die dort ungehört schreien.«
Mit ähnlicher Erkenntnis hatte sich 2002 das Projekt Ramallah Underground gegründet. Die Gruppe spielt Rap, Trip-Hop, Downtempo mit politischen Texten in arabischer Sprache, begleitet von Performances der Videokünstlerin Ruanne Abou-Rahme. Ihre Stücke handeln vom durch Gewalt bestimmten Alltag im Westjordanland unter israelischer Militärdiktatur. »Sie haben uns enteignet, unser Land genommen, uns besiegt und gedemütigt«, heißt es in dem Stück »Sijen ib Sijen« (Gefängnis im Gefängnis). 2008 entdeckte das berühmte Kronos Quartet das Künstlerkollektiv, trat mit ihm gemeinsam mit der Komposition für Streicher und Perkussion »Tashweesh« (Störgeräusch) von Boikutt auf, einem Mitglied von Ramallah Underground, die es ein Jahr später auch auf seinem Album »Floodplain« veröffentlichte. Seit dieser Zeit hinterfragen Ruanne Abou-Rahme und Basel Abbas, ein weiteres Mitglied der Gruppe, mit multimedialen Installationen aus Ton, Bild und Text – zum Beispiel mit Thesen von Edward Said – Narrative der kapitalistischen und kolonialistischen Gesellschaft, die alles Unterworfene zum Verschwinden bringt. So erzählt ihre Videoinstallation »Oh Shining Star Testify« vom »Ausradieren einer Identität, eines Erbes, einer Existenzgrundlage, eines Vermächtnisses, der Erinnerung, der Kultur, der Freizügigkeit und des Wohlbefindens«, wie es in der Westbank und im belagerten Gazastreifen geschieht. 2022 wurden einige ihrer Arbeiten im Museum for Modern Art in New York und auch auf der Berlin Biennale präsentiert, auf der die »Verbindungslinien zwischen Kolonialismus, Faschismus und Imperialismus« sichtbar gemacht werden sollten.
Während Trio Joubran und andere künstlerische Stimmen der geschundenen Kolonisierten in Palästina hierzulande mittlerweile rigoros ausgeblendet werden, lässt die Präsenz antikolonialer Kunst aus dem Nahen Osten, die Bezüge zu den Theorien der am Marxismus orientierten nationalen Befreiungsbewegungen des 20. Jahrhunderts aufweist, Feuilletonisten Alarm schlagen. So erkannte Claudius Seidl in einem Artikel für die FAZ sogleich »Reflexe der antiimperialistischen Linken« und einen Angriff auf die »westliche Moderne«. Und unter anderem mit der durchsichtigen Viktimisierung, »dass der Staat Israel die Vereinigten Staaten als großen Satan, als wichtigsten Gegner aller antiimperialistischen und antikolonialistischen Kämpfer längst abgelöst hat«, war die seinen Beitrag betitelnde Frage »Wie antisemitisch ist der Kunstbetrieb?« schnell beantwortet.
Ali-Baba oder Terrorist
Spätestens seit der documenta fifteen im Sommer 2022 sind Antisemitismusvorwürfe die Standardreaktion des Establishments von Politik und Medien auf jede Kritik an den vielen hässlichen Erscheinungsformen des NATO-Imperialismus – egal, wie leise, wie vorsichtig oder gar codiert sie sich äußert. Wie der Skandal auf der Berlinale um die Preisverleihung für den Dokumentarfilm »No Other Land« an Yuval Abraham und Basel Adra gezeigt hat, sind seit dem 7. Oktober alle Dämme gebrochen. Keine Konstruktion angeblicher Indizien zu sehr an den Haaren herbeigezogen, keine ideologische Verrenkung zu peinlich, keine Diffamierung zu schmutzig, um sie nicht gegen palästinensische und andere Künstler und Kulturschaffende in Stellung zu bringen, die in einer antikolonialen Tradition stehen. Ob Mohammed Al-Hawajri mit seinem Bilderzyklus »Guernica – Gaza« oder der haitianische Kurator Anaïs Duplan: Mittlerweile wird der Kunstfreiheit praktisch aller Künstler aus dem globalen Süden von deutschen Zensoren enge Grenzen gesetzt, sobald sie israelische Regierungen kritisieren.
Antikoloniale Kunst unterminiert das Klischee vom »antisemitischen Barbaren«. Dieses wird vor allem ventiliert, um Deutschlands enge Verflechtung mit dem militärisch-industriellen Komplex Israels und Komplizenschaft mit den Kriegsverbrechen in Gaza und der ethnischen Säuberung im Westjordanland ideologisch zu rechtfertigen und palästinensische Interessen zu diskreditieren.
Dafür wird alles, was aus der Krisenregion kommt und nicht israelisch oder proisraelisch ist, als »Hamas« gelabelt – bestenfalls als »folkloristisch« und damit »primitiv« abgestempelt. In Deutschland herrscht in moderaterer Form eine ähnliche Wahrnehmung, wie sie Nurit Peled-Elhanan, die Autorin einer Studie über Ideologie und Propaganda in der Bildung, der israelischen Gesellschaft bescheinigt hat: Palästinenser kämen vorwiegend als »Ali-Baba-Karikaturen, Terroristen, niedrige Bauern oder Flüchtlinge« oder gar nicht vor. »Wenn man Menschen unterdrücken und kontrollieren will, dann muss man ihnen ihr menschliches Antlitz nehmen und es durch Stereotype ersetzen«, so die israelische Literaturwissenschaftlerin. »Die Palästinenser werden nicht als Individuen gezeigt, nicht als Menschen mit einer Kultur, sondern nur als Problem und Bedrohung, die beseitigt werden müssen.« Diese Logik durchwirkt die gesamte Geschichte des Kolonialismus, die keineswegs abgeschlossen ist.
Nazifizierung und Vernichtungswahn
In Deutschland funktioniert die Entmenschlichung und Dämonisierung am besten durch Nazifizierung. Spätestens seit Quentin Tarantinos »Inglourious Basterds« von 2009, der hierzulande signifikant großen Anklang fand – wahrscheinlich nicht trotz, sondern weil er mit Hilfe von philoantisemitischen Klischees von Nazis gewohnte Gewaltexzesse den Holocaust rächenden Juden andichtete, um der Lust an der Brutalität den Schein der Political Correctness zu verpassen –, gilt auch in der Kultur: »Wer wollte sagen, irgendetwas ginge zu weit, wenn es gegen die Nazis geht?«, kommentierte der Filmkritiker Jens Jessen treffend die neue deutsche ideologische Verrenkung zur Konsumierbarmachung von Gräueltaten. Und so müssen die Palästinenser nur als »Faschisten« oder »Nazis« deklariert werden, und schon ist die Lizenz zum Massenmord erteilt.
Damit ist vor allem die staatsräsonkonforme Popkulturszene beschäftigt, die sich seit Jahrzehnten erfolgreich mit dem Gütesiegel »Antifa« vermarktet. Je beharrlicher sie zu allen Rechtsextremisten schweigt, die dem NATO-Imperialismus zu Diensten oder zumindest hilfreich sind – vom ukrainischen Bandera-Faschisten bis zum Kahanisten in Israel –, desto bemühter ist sie, das Nazi-Problem nach Palästina zu verfrachten. »Zivilisten in Gaza sind Schutzschild der Hamas, Schutzschild der Nachfahr’n der Judenvergaser«, so ein Reim aus dem Lied »Oktober in Europa« der Hip-Hop-Gruppe Antilopen Gang, die schon seit Jahren gegen die antikapitalistische Linke und das Friedenslager hetzt und dafür mit Lob von den Sachverwaltern der deutschen Kulturzustände überhäuft wird.
Ebenso Artists Against Antisemitism, die keinen Gedanken an die seit 76 Jahren permanent eskalierende Besatzergewalt verschwenden. Auch sie kennen die unterdrückten Palästinenser nur »als menschliche Schutzschirme« der Hamas – um faktisch das Zerbomben des Gazastreifens zu einem Ground Zero und Siedlerpogrome zu »Reaktionen Israels« zu verklären. Die von Tocotronic, Sebastian Krumbiegel, Fehlfarben und vielen anderen deutschen Kulturschaffenden beworbene Initiative – sie wird maßgeblich von der vorwiegend durch Bundesmittel finanzierten Amadeu Antonio Stiftung getragen – agitiert auch gegen den zivilgesellschaftlichen palästinensischen Widerstand und linke Künstler, namentlich Roger Waters, die ihn unterstützen: »Ihre Forderung nach einem Palästina ›vom Fluss bis zum Meer‹ beinhaltet von vornherein den unverhohlenen Wunsch nach der Vernichtung der dort lebenden Juden«, ist im Aufruf zu lesen. So wird durch die vorsätzliche Missinterpretation eines Slogans, mit dem ein demokratischer Staat mit gleichen Rechten und Sicherheit für alle verlangt wird, den Unterdrückten und denen, die sich mit ihnen solidarisieren, die Absicht unterstellt, Dinge zu tun, die vor 80 Jahren tatsächlich in ungeheuerlichem Ausmaß von Deutschen getan wurden – ein Fall falscher Projektion der eigenen nie bewältigten Vergangenheit. Heute meinen deutsche Kulturbotschafter offenbar, diese unter den Vorzeichen der liberalen Gesellschaft abschütteln zu können, indem sie die Verdammten dieser Erde mit dem Imperativ »Nie wieder!« niederbrüllen.
Einige verhelfen dem (neuen) alten deutschen Ausmerzungsdrang schon längst wieder zum Ausdruck: »Egal, wo es Krieg gibt, egal, wie viele Leichen – Israel sollte die Faschisten von der Karte streichen«, begehrte die Elektropunkkapelle Alles.Scheisze, die sich ebenfalls den Artists Against Antisemitism angeschlossen hat, bereits 2017 in ihrem Lied »Israel ballert« die Ausrottung des »Pali-Manns«. »Blutrünstige Deutsche, die sich an israelischer Brachialgewalt gegen Palästinenser delektieren, werden stets von der eigenen Neurose eingeholt: Was sie gern im Geheimen den Juden, die ihnen als Geschichtslast auf der Seele liegen, antun würden, aber nicht mehr dürfen, lassen sie von Juden an den Palästinensern ›verrichten‹«, sagte Moshe Zuckermann in einem Interview. »Die Unfähigkeit zu trauern, hat darin noch einmal eine besonders perverse Wende angenommen.«
Philosemitischer McCarthyismus
Mittlerweile wurden Hunderte Lesungen, Konzerte, Ausstellungen und Vorträge mit Bezug zur Tragödie in Palästina unterbunden, internationale Künstler ausgeladen, zensiert oder ihnen die Fördermittel entzogen – es reichte manchmal schon, dass sie Selbstverständlichkeiten wie die Einhaltung des humanitären Völkerrechts im Gazastreifen verlangten.
Dieser Prozess hat sich bereits derart zugespitzt, dass selbst kritische jüdische Künstler und Intellektuelle in einem »Klub der schlechten Juden« ghettoisiert werden, wie Naomi Klein feststellte. Dahin werden längst nicht nur Antizionisten, sondern auch Liberale abgeschoben. Besonders wenn sie sich dem gefährlichen Trend verweigern, den Holocaust heteronom zu instrumentalisieren und zu relativieren. Das widerfuhr zum Beispiel der Foto-und-Videokünstlerin Candice Breitz durch die Stiftung Saarländischer Kulturbesitz, weil sie der Definition des palästinensischen Angriffs vom 7. Oktober als »Zivilisationsbruch« (ein Begriff, der die Singularität von Auschwitz als pars pro toto der industriellen und bürokratisch verwalteten Massenvernichtung von Menschen durch den Hitlerfaschismus apostrophiert) nicht zustimmt – auch in dem Wissen, dass es darum geht, deutsche »Schuld und historische Verantwortung auf linke Juden, Palästinenser, Muslime und/oder Araber sowie schwarze und braune Menschen abzuwälzen«.
Internationale Künstler beunruhigen solche Phänomene von Entdemokratisierung, Geschichtsrevisionismus, der nicht zuletzt zum von Susan Neiman so benannten »philosemitischen McCarthyismus« führt, und anderer Rechtstendenzen seit Jahren. Eine stetig wachsende Zahl von ihnen macht einen großen Bogen um Deutschland – etwa wegen des »politischen Klimas, das gegen Palästinenser gerichtet ist«, wie das Management von Ruanne Abou-Rahme und Basel Abbas 2022 gegenüber M&R erklärte. Eine Entwicklung, die eine Eindimensionalisierung und Provinzialisierung der deutschen Kulturlandschaft zeitigt, die sich bis heute allzu gern als »vielfältig« und »weltoffen« inszeniert.
In den vergangenen Monaten hagelt es nur so Absagen von Musikern und DJs an die deutsche Klubszene und Konzertveranstalter. Dem Booze Cruise Festival in Hamburg ging der Headliner Jeff Rosenstock aus den USA und diverse Bands wie Teenage Halloween von der Fahne, als bekannt wurde, dass der Veranstalter Stefan Jonas-Stephany die Propagandalügen des Jungen Forums der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, einer Pressure Group der Netanjahu-Regierung, feiert. »Befreit Palästina und hört auf, mit unseren Steuergeldern Faschismus und Völkermord statt Gesundheitsversorgung zu finanzieren«, so Rosenstock nach seinem Rückzieher.
Von solchen Empfehlungen wollen die Ampel-Kultureliten nichts wissen. Zum Beispiel der Leiter der unter anderem von der Bundesregierung und dem Land Nordrhein-Westfalen geförderten 70. Internationalen Oberhausener Filmtage, Lars Henrik Gass, der sich eine ebenso klare Positionierung gegen die Palästinenser wie gegen Russland wünscht. Nachdem Gass die propalästinensische arabische Community in Berlin-Neukölln mit dem hierzulande todsicher funktionierenden rassistischen Stigma »Hamas-Freunde und Judenhasser« belegt hatte, protestierten Filmschaffenden aus der ganzen Welt. Zum Beispiel Sarnt Utamachote – gegen »weiße Deutsche, die glauben, dass ihre Schuld am Zweiten Weltkrieg sie dazu qualifiziert, die Gedanken anderer zu zensieren« und sich für derart moralisch überlegen hielten, das Palästinenserschlachten rechtfertigen zu können, so der Kurator des Xposed Queer Film Festivals Berlin. »Ihr werdet eines Tages in die Augen dieser Finsternis schauen und euch selbst sehen.« Umso lautstarker wurde bei der offiziellen Eröffnung der Oberhausener Filmtage die »deutsche Staatsräson« der Israelsolidarität beschworen.
Mit der Kampagne »Strike Germany« verweigern Hunderte von Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlern aus dem globalen Süden, aber auch den USA, Kanada und europäischen Ländern deutschen Kultureinrichtungen die Mitwirkung an Festivals, Panels und Ausstellungen. Sie richtet sich gegen eine politische Kultur, die, »anstatt sich mit ihrer eigenen rassistischen, zunehmend neofaschistischen Politik auseinanderzusetzen«, die arabische und muslimische Bevölkerung in Deutschland für »importierten Antisemitismus« verantwortlich mache, ist in ihrer gemeinsamen Erklärung zu lesen. »Die deutsche ›Erinnerungskultur‹ nach der Wiedervereinigung – die staatliche Kampagne zur Aufarbeitung des deutschen Völkermords an den Juden – wirkt wie ein repressives Dogma, das die Unterdrückung, gegen die wirkliche ›Erinnerung‹ wirken sollte, noch verstärkt.«
Verschleierte Kontinuitäten
Diese Form des kalten Vergessens und die Tatsache, dass dem neuen Säuberungswahn schon seit zwei Jahren alles Russische – das vom deutschen Chauvinismus vor allem dem Nazismus mehr als ein Jahrhundert als inferior eingestuft wird – zum Opfer gefallen ist, zeigen, dass sich diese verhängnisvolle Entwicklung nicht auf Israels rücksichtslose Okkupationspolitik und die White-Supremacy-Ideologie als Kern des Übels reduzieren lässt, wie es viele Vertreter postmoderner Theorien tun – ein Irrweg, der wiederum falsche Relativierungen nach sich zieht.
Sie muss vielmehr als Ausdruck des wieder aggressiven deutschen Imperialismus begriffen werden, der militärisch seine Fühler nicht nur nach Osteuropa, sondern auch bis hinein in den Nahen Osten ausstreckt. Um soliden Rückhalt der Bevölkerung für die Durchsetzung seiner kriegerischen Absichten zu sichern, müssen die historischen Kontinuitäten zwischen den genozidalen Massenmorden des Kolonialismus im 19. Jahrhundert und dem Holocaust im 20. Jahrhundert – vor allem die Erkenntnis, dass die Barbarei in die Matrix der kapitalistischen Zivilisation eingeschrieben ist – verschleiert werden. Allemal, dass »der Völkermord seine Wurzel in jener Resurrektion des angriffslustigen Nationalismus hat«, wie Adorno in »Erziehung nach Auschwitz« festhielt, die gerade wieder in vollem Gange ist – und eine Verdichtung der unter der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft schwelenden Elemente des Faschismus und damit unweigerlich auch eine volksgemeinschaftliche Formierung aller Bereiche der Gesellschaft erzwingt.
Deutschtümelei
Letztere ist bereits weit fortgeschritten. Einigkeit und Entschlossenheit, das kolonisierte Inferiore aus dem deutschen Kulturkörper auszustoßen, herrscht bis hinein in Gegenkulturszenen. Beim diesjährigen Hafengeburtstagskonzert in Hamburg haben die Veranstalter aus dem Punkmilieu den Musikern palästinasolidarische Äußerungen explizit untersagt – wie es in den meisten autonomen und allen staatlich subventionierten Kulturzentren seit Jahren Praxis ist. Als nur im Publikum vor der Bühne an den ehemals besetzten Hafenstraßenhäusern Kufiyaträger ausgemacht wurden, kannten »Antifa«-Punker keinen Unterschied zwischen rechts und links mehr, nur noch deutsche Staatsräson, schritten zur Tat und entfernten das kulturfremde Element. Der Imperativ der internationalistischen Antifaschisten »¡No pasarán!« wird von der hiesigen Anarchoszene längst gegen alles gerichtet, was die von oben verordnete Israelharmonie und das imperiale Überlegenheitsgefühl stört.
Seit Langem mieft immer mehr, was sich für »linke Subkultur« hält, nach Deutschtümelei. So hat Punk heute mit dem DIY-Ethos des Pöbels mit vorbewusstem Klassenstandpunkt, der in den 1970er-Jahren mit dem Motto »Take three chords!« und in Anlehnung an Traditionen der Unterdrückten dem Starkult und der Fetischisierung des virtuosen Sologenies des Popmainstream den Stinkefinger gezeigt hatte, nicht nur nichts mehr zu tun – er steht im Gegensatz dazu: Das Repertoire der Toten Hosen, Ärzte und Feine Sahne Fischfilet (die auf ihren Konzerten unisono mit Strack-Zimmermann und Rheinmetall gegen die »Regenbogen-Hippies« von der Anti-Gazakriegs-Bewegung »den Rücken gerade machen, wie die Berliner Morgenpost lobt) besteht fast nur noch aus dissonanz-, bruch- und widerspruchslosen Mitgrölrockschlagern. Diese rufen schon lange nicht mehr das von unten rebellierende Kollektiv, sondern das gleichschaltende Deutsche-Kirmeszelt-»Wir« an. Und allein indem sie die Bierdusche als höchstes Glück feiern, erweisen sie sich als so stumpf und hohl – reaktionär! –, dass sie locker an die kleinbürgerlichen Schunkel- und Marschlieder vom Anfang der 1930er-Jahre anknüpfen können, die mithalfen, die Massen in die Arme der Nazis und schließlich in den imperialistischen Krieg zu treiben.
Alte Gewohnheiten
Die Reaktionen des deutschen Feuilletons auf Künstler, die aus dem Zentrum der westlichen Kulturhemisphäre kommen und sich nicht dem Bekenntniszwang zu Israel beugen, demonstrieren, dass die Ächtung von Roger Waters ein Extrem-, aber kein Ausnahmefall ist. Selbst Megastars mit Top-Chartplatzierungen dürfen für vom deutschen Konsens abweichendes Verhalten maximal noch missmutige Duldung erwarten: »Die Menschen wirken an diesem Punkt des Abends anders als zuvor, aber nicht geeint«, bemängelte ein Rezensent der Rheinischen Post nach einem Konzert von Macklemore Anfang Juni in Mönchengladbach, dass der US-amerikanische Rapper seinen Song »Hind’s Hall« gespielt hatte, der zur Hymne der internationalen Palästinasolidaritätsbewegung avanciert. »Das politische Statement wirkt wie ein sonderbarer Fremdkörper im Fluss des Entertainments.«
Vor solchen düsteren Hintergründen – die auch mit der dümmlich-infantilen Staatsantifaparole »Bunt statt braun!« nicht übertüncht werden können – ist die Feststellung von Candice Breitz, dass Deutschland gegenwärtig in erstaunlichem Tempo »wieder in genau die Gewohnheiten zurückgleitet, die es angeblich hinter sich gelassen hat«, mehr als berechtigt. Das gilt sogar für die polemische Frage, in die sie ihre Anklage der »lauten Stille« in diesem Land gipfeln lässt: »Wann wird die Bücherverbrennung anfangen?«
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