Agitprop 2.0 oder Medienspektakel?
Die Aktionskünstler vom Zentrum für politische Schönheit sorgten im Sommer für internationalen Medienrummel: Unter dem Motto »Die Toten kommen« wurden an den europäischen Außengrenzen verstorbene Flüchtlinge exhumiert, nach Berlin, also »direkt zu ihren bürokratischen Mördern«, überführt und dort bestattet. Im Zusammenhang mit solchen Aktionen ist die Rede von »Agitprop 2.0«. Die solle »reizen, anklagen und wehtun« – es bedürfe drastischer Mittel, um drastisches Unrecht anzuklagen, meinen die Initiatoren. Kritiker hingegen verweisen auf die Anschlussfähigkeit des »Artivismus«: Er folge den Regeln der skandalisierenden Kampagne; dem eigentlichen politischen Anliegen sei damit kaum gedient. Mitunter werde sich mehr über die eingesetzten Mittel als über die Missstände empört, gegen die mit den Aktionen protestiert werden soll.
Wir lassen die These diskutieren:
Artivismus fehlt das Potenzial zur Subversion
PRO
Aktivismus statt Artivismus
Betrachtet man Künstler, die Teil von Protestbewegungen sind oder Recht-auf-Stadt- und Flüchtlingsinitiativen anführen, als »Artivisten«, so sitzt man einem grundlegenden Missverständnis auf. Die in Deutschland lebende weißrussische Künstlerin Marina Naprushkina etwa, die 2013 die Flüchtlingsinitiative Neue Nachbarschaft in Berlin gegründet hat, tut dies gerade nicht als Protagonistin eines neuen Kunstgenres. Eine solche »Genrefizierung« würde ihren politischen Impuls entschärfen. Naprushkina schielt nicht darauf, von der etablierten Kunstkritik entdeckt zu werden. Stattdessen schreibt sie in der von ihr herausgegebenen Zeitschrift Self # governing und veröffentlicht Bücher wie »Neue Heimat? Wie Flüchtlinge uns zu besseren Nachbarn machen«.
Karen van den Berg ist seit 2003 Inhaberin des Lehrstuhls für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. künstlerische Produktionsund Handlungsformen, Theorie des Inszenierens und Ausstellens sowie Kunst und Öffentlichkeit. Zum Thema erschien von ihr das Buch »Art Production Beyond the Art Market?«. Foto: Rene Hentschel
CONTRA
Neue ausserparlamentarische Opposition
Kritische Kunst ist gegenwärtig in einer schwierigen Situation, denn die Autonomie der Kunst war entweder schon immer eine Fiktion, oder sie ist Ende des 20. Jahrhunderts verloren gegangen. Das Kunstsystem stellt heute ein Subsystem der Gesellschaft dar, das die Marktmechanismen der Finanzwirtschaft widerspiegelt. Kunst ist Teil jenes Systems geworden, das sie im Sinne der Autonomie eigentlich kritisieren soll. Sie ist abhängig – nicht etwa von Auftraggebern, wie vor dem 19. Jahrhundert, sondern vom Markt.
Die Dominanz der auf Krediten aufgebauten Finanzwirtschaft, der Staat als Beute und Komplize der Banken, hat die repräsentative Demokratie in eine Krise gestürzt. Deswegen sprechen wir heute von einer »defekten Demokratie« (Wolfgang Merkel). Da in den Augen vieler Menschen die repräsentative Demokratie die in der Verfassung garantierten Rechte der Menschen nicht mehr schützt, sondern im Gegenteil eher beschädigt oder aussetzt, übernehmen sogenannte Nichtregierungsorganisationen (NGOs) immer mehr jene Aufgaben, die eigentlich dem Staat obliegen und die die staatlichen Fehlentwicklungen korrigieren und bekämpfen.
Peter Weibel 1944 in Odessa geboren, studierte Literatur, Medizin, Logik, Philosophie und Film in Paris und Wien. Durch seine vielfältigen Aktivitäten als Künstler, Kurator, Theoretiker und als Nomade zwischen Kunst und Wissenschaft gilt er als ein zentraler Vertreter der europäischen Medienkunst. Seit 1999 ist er Vorstand des ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe. Foto: Artis
Die kompletten Bebattenbeiträge lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 6/2015, erhältlich ab dem 30. Oktober 2015 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.