
Grafik: Nodulation / CC by 3.0 (https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16138047)
Kulturschaffende unter Druck – Hindernis oder Herausforderung?
Wie stark künstlerische Produktion auf einer ökonomischen Basis fußt, ist für viele kulturelle Akteure infolge der Weltwirtschaftskrise schmerzhaft spürbar geworden. In Zeiten des reaktionären Backlash rücken zudem Fragen nach den politischen Rahmenbedingungen künstlerischer Arbeit in den Mittelpunkt: In Ländern wie der Türkei wird kreativer Output heute vielfach mit staatlichen Repressionen belegt. Gleichzeitig scheinen Willkür und Ungerechtigkeiten autoritärer Regime genau jenen Treibstoff zu liefern, mit dem künstlerischer Furor sich zur Revolte ausweiten kann. US-Musikerin Amanda Palmer versprach, dem Rechtstrend in ihrem Heimatland die Produktion radikaler Subkultur abzutrotzen: »Donald Trump is going to make punk rock great again.« Und Piper-Verlegerin Felicitas von Lovenberg erklärte dieses Frühjahr: »Wenn der Wohlfühl-Kokon aufbricht, ist das für die literarische Produktion oft ergiebig.« Wird das kritische Kunstschaffen durch Gegner und prekäre Verhältnisse, an denen es sich abzuarbeiten gilt, also eher stimuliert – oder verstummt es unter den Erfahrungen zunehmender Oppression? Wir lassen folgende These diskutieren:
Gesellschaftliche Krisenmomente fördern das produktive Potenzial.
PRO
Fruchtbarer DruckMan muss niemanden mehr davon überzeugen, dass wir gerade in prekären Zeiten leben – und das ist noch eine Untertreibung. Nach neuesten Umfragen befürchten mehr als 60 Prozent der Menschen den Verlust von Werten und Normen in einer Zukunft, die stark individualisiert, wenn nicht antisozial sein wird. Durch die Nutzung digitaler Plattformen und weiterer Entwicklungen in diesem Bereich werden unsere tagtäglichen Bedürfnisse mehr und mehr zugeschnitten und angepasst; es wird eine Welt geschaffen, die uns »real« erscheint, aber offenkundig nur noch unsere eigene Wahrnehmung repräsentiert. Verschiedene Formen der Falschdarstellung in den Medien fordern unsere kritische Sicht auf die Gesellschaft und ihre ökonomischen, sozialen und politischen Themen heraus. …
Krist Gruijthuijsen ist seit dem 1. Juli 2016 Direktor der Berliner KW Institute for Contemporary Art. Davor leitete er fünf Jahre den Kunstverein Graz. In den vergangenen zehn Jahren organisierte er zahlreiche internationale Ausstellungen und veröffentlichte in renommierten Kunstverlagen.
Foto: Ali Kepenek
CONTRA
Repression ist keine MuseDer Volksmund ist sich über die segensreiche Kraft der Bedrückung nicht einig. »Hunger lehrt geigen«, meint Nr. 5089 in Karl Simrocks Sammlung »Die deutschen Sprichwörter«. Aber die Nr. 5093 besteht auf dem Gegenteil: »Hunger und Durst singen keinen Alt.« Die Ernennung der Repression zu einer Art zehnter Muse gehört zu einem verbreiteten bürgerlichen Künstler-Bild vom Genie. Dass hungrige menschliche Singvögel besonders schön singen, scheinen Fälle wie der politisch ziemlich bewusste Wiener Klassiker Franz Schubert zu bestätigen. Sein großes Werk wäre aber noch umfangreicher, hätte er besser und länger gelebt, und sicher deshalb nicht schlechter. Die Denkweise, die der These zugrunde liegt, ist also wenig anderes als bürgerliche Verachtung der »brotlosen Kunst« und der Kunstproduzierenden, wenn diese nicht sehr prominent sind und sich wie ihren Unternehmen nicht viel »Geld in die Kassen spülen«. …
Hanns-Werner Heister lehrte bis zu seiner Emeritierung 2011 Musikwissenschaft in Hamburg. Er ist Mitherausgeber des Lexikons »Komponisten der Gegenwart«. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u. a. politische, populäre und Neue Musik. In Vorbereitung: »Fuzzy Logic and Music«.
Foto: Hanns-Werner Heister
Die kompletten Debattenbeiträge lesen Sie in der Melodie & Rhythmus 2/2017, erhältlich ab dem 31. März 2017 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.
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