Victor Jaras Diskurs: Daniel Viglietti, Uruguay, Konzertiert in der Casa de las Americas
Ulli Fausten
»So unterschiedliche Fahnen / Und die Armut ist überall die gleiche / Ich möchte meine Landkarte zerreißen / Und eine Karte für alle formen / Mestizen, Schwarze und Weiße« (Daniel Viglietti, »Milonga de andar lejos«)
Daniel Viglietti tritt vor sein Publikum im Sala Che Guevara der Casa de las Américas in Havanna. Dieser Konzertsaal ist ein echtes Schmuckkästchen, überdimensionale moderne Gemälde zieren die Seitenwände, die sechs Meter hohe Plastik »Der Lebensbaum« überstrahlt in Orange, Rot und Gelb die Grautöne im Hintergrund. Viglietti ist wegen des erstmals vergebenen Noel-Nicola-Preises nach Havanna gekommen – für Verdienste um das iberoamerikanische Lied.
Der uruguayische Musiker ist in Lateinamerika und der Karibik eine Legende. Geboren 1939 in Montevideo, wandte er sich in den 1960er-Jahren dem »Canto popular« zu – was mit »Volkslied« nur sehr unzureichend übersetzt ist. Sein Werk ist geprägt von radikalen sozialen Inhalten, seine Texte unterstützten die Volkskämpfe im Süden. 1972 landete er deswegen im Gefängnis, wurde nach internationalen Protesten von u. a. Jean-Paul Sartre, François Mitterrand und Oscar Niemeyer freigelassen. Sein nicht minder berühmter Landsmann, der Dichter Mario Benedetti, begleitete ihn ins Exil nach Paris, von wo aus er zahlreiche Solidaritätskonzerte in aller Welt gegen die Diktatur in Uruguay und in anderen lateinamerikanischen Ländern bestritt. 1984 kehrte er nach Montevideo zurück, gefeiert von Abertausenden.
Als der 76-jährige hochgewachsene, leicht gekrümmt gehende Mann nun seinem Instrument die ersten Töne entlockt, passiert etwas mit ihm, dem man mit dem Wort »Ruck« nicht wirklich gerecht wird – es ist fast schon eine Metamorphose. Vigliettis Stimme ist kräftig und klar, changierend zwischen Hell und Dunkel, schneidend und schmeichelnd, ganz nach Bedarf des Liedes, so wie immer, sein Gitarrenspiel brillant und virtuos.
Der Cantautor setzt im Wesentlichen den Diskurs fort, der durch den Mord der Putschisten an Chiles Victor Jara am 16. September 1973 unterbrochen schien: die Klage über systematisiertes Elend und Unrecht, das Anprangern der daran Schuld Tragenden und den Appell an uns, an jene, die guten Willens sind, das Menschenmögliche daranzusetzen, die Verhältnisse zu ändern. In »A desalambrar« schreibt er den Besitzbegriff von Legalität auf Legitimität, von Recht auf Gerechtigkeit um: »Wenn die Hände uns gehören / Dann gehört uns auch, was sie uns geben / Der Boden gehört mir und dir und jenem dort / Er gehört Pedro, Maria, Juan und José.«
Nicht alle seine Lieder sind dramatisch oder im positiven Sinne plakativ. Nicht alle erschließen sich dem Publikum unmittelbar. Er hat auch Stücke in seinem Repertoire, die intellektuell verspielt, sarkastisch oder ironisch daherkommen und zum Lachen reizen. »Esdrújulo«, das sich an einer Stelle selbst als »vals arrítmico« – und man könnte tatsächlich einen etwas holprigen Wiener Walzer darauf tanzen – bezeichnet, ist wohl sein bekanntestes Lied dieser Art. Es ist gleichsam mit einem (langen!) Augenzwinkern geschrieben und wird auch so vorgetragen. In seiner letzten Strophe zählt Viglietti auf, was passieren muss, damit unsere Träume in Erfüllung gehen: »Wenn die Armut von den Kuppeln Besitz ergreift / Wenn die Ausgehungerten die Afrikas erobern / Und die Indigenen das Amazonasbecken / Wenn die Mechaniker die Fabriken übernehmen / Und die Utopisten über den Prolog hinauskommen«
Stehend Applaudierende, Zugaben nach 17 Liedern, ein Konzertereignis.
Den Artikel lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 4/2016, erhältlich ab dem 1. Juli 2016 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.