Melodie & Rhythmus

Verlorene Unschuld

28.06.2016 14:15
Eurovision Song Contest 2016

Foto: TT News Agency / Reuters

Ein Kommentar von Susann Witt-Stahl zum Eurovision Song Contest 2016

Die Aufregung über den Sieg der Ukraine beim diesjährigen Eurovision Song Contest (ESC) ist vorüber. Ein Problem jedoch, das in den kommenden Jahren für weitere Konflikte sorgen dürfte, bleibt: Mit der Zulassung von Jamalas Song »1944« zum Wettbewerb wurde der ESC seiner Unschuld beraubt und als Propagandaplattform hergerichtet. Damit ist der Rubikon überschritten – hin zu neuen Ufern, von denen aus Schlachtfelder für die Fortsetzung der neu-alten Kalter-Krieg-Politik mit kulturindustriellen Mitteln erschlossen werden können.

Jamalas »1944« über die Deportation der Tataren durch die Sowjets nach der Rückeroberung der Krim von Nazi-Deutschland wurde auf einer Welle der – von den Konzernmedien regelrecht eingeforderten – Sympathie in die Endrunde getragen. Nicht obwohl, sondern weil es gegen einen kategorischen Imperativ des ESC verstieß: Der Song ist eindeutig politisch und dient zweifellos dem Zweck der Agitation. Besonders pikant: Der Name seiner Interpretin ist auf dem Line-up des diesjährigen Banderstadt- Festivals in Luzk zu finden, einem Stelldichein von Banderisten und anderen ukrainischen Rechtsradikalen. Vor dem Hintergrund des Bürgerkrieges im Donbass und den zum Zerreißen gespannten Beziehungen zwischen Kiew und Moskau hat Jamala das ideologische Feuerwerk gezündet, das sich antirussische Meinungsmacher erhofft hatten. Die Repressionsgeschichte der Krimtataren müsse erzählt werden, »be cause it’s true«, meint Jamala. Abgesehen davon, dass ein Schlager das denkbar schlechteste Medium für die Aufarbeitung der Vergangenheit eines Weltkrieges ist – dass in »1944« maximal die halbe Wahrheit zur Sprache kommt, belegen historische Tatsachen: Die Zwangsumsiedlung, bei der Zigtausende Tataren an den Folgen unmenschlicher Behandlung starben, erfolgte, nachdem 20.000, nahezu alle Männer im wehrfähigen Alter, mit den deutschen Besatzern kollaboriert hatten. Etwa 280.000 Menschen (sowjetische Soldaten, Partisanen, Juden u.a.) fielen den Militäraktionen (inklusive zahlreicher Kriegsverbrechen) dieser unheiligen Allianz zum Opfer.

Wenn sich die deutsche Öffentlichkeit an der Unterschlagung dieser anderen Hälfte der Wahrheit beteiligt und es unterlässt, notwendige Differenzierungen vorzunehmen, dann ist das bedenklich. Dass eine Repräsentantin der Stiftung Wissenschaft und Politik, die die Bundesregierung in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik berät, wie drei Tage vor dem ESC-Finale geschehen, »1944« als Steilvorlage benutzt, um »angesichts der Menschenrechtsverletzungen auf der Krim« gegen die Tataren den Ausschluss Russlands aus dem Europarat zu fordern, ist unerträglich – und natürlich ein Signal an die ohnehin auf Krawall gebürsteten Machthaber in Kiew. Der Hardliner und nach wie vor einflussreiche Exministerpräsident Arsenij Jazenjuk hat es sogleich verstanden: »Die Ukraine siegt und wird siegen«, polterte er am Tag des großen Triumphs. »Die Krim wird ukrainisch sein.«

Der Beitrag erscheint in der Melodie und Rhythmus 4/2016, erhältlich ab dem 1. Juli 2016 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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