Gespräch mit Ishay Landa über die Irrwege der Faschismusforschung und des Antifaschismus
Vor 90 Jahren bekannte sich Adolf Hitler in seiner historischen Rede vor dem Industrie-Club Düsseldorf zum Privateigentum, und deutsche Konzernchefs übten mit ihm den Schulterschluss – beides nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal. Die Tatsache, dass schließlich auch der NS-Staat eine wirtschaftsliberale Agenda verfolgte, wird heute nicht zuletzt durch die idealistische Geschichtsschreibung vernebelt, die seit Ende der 90er-Jahre als »neuer Konsens« unter den Faschismustheoretikern gilt. So fordern etwa Roger Griffin und Zeev Sternhell, den Faschismus »beim Wort zu nehmen« und als dissidenten Sozialismus zu verstehen. Der israelische Historiker Ishay Landa, der zur intellektuellen Genealogie des Faschismus forscht, bürstet diese auch tief in die Linke hinein verbreitete Erzählung in seiner Abhandlung »The Apprentice’s Sorcerer« – die 2021 in deutscher Übersetzung unter dem Titel »Der Lehrling und sein Meister. Liberale Traditionen und Faschismus« erschienen ist – gegen den Strich und stellt die Faschismusforschung wieder auf historisch-materialistische Füße. Susann Witt-Stahl sprach mit Landa über die ideologisch verzerrte Rezeption des faschistischen Welt- und Menschenbilds, die Mystifizierungen des Nationalsozialismus und seine Bedeutung als Sonderweg des Westens sowie über notwendige Kurskorrekturen des Antifaschismus.
Sie kritisieren eine Forschung, die die Ideologie des Faschismus in den Mittelpunkt stellt und ihn »immer weiter nach links verschiebt oder sogar ganz dem Sozialismus zuordnet«, wie Sie sagen. Das Phänomen ist nicht neu: Die Gründerväter und Propagandisten des Neoliberalismus, etwa Friedrich Hayek und Walter Lippmann, der den Faschismus als »Abart« des Kommunismus betrachtete, haben das schon in den 1940er-Jahren getan. Aber in den vergangenen Jahrzehnten werden derartige Faschismustheorien nicht nur von marktradikalen Rechten und Konservativen wie Peter Sloterdijk vertreten, sondern sind zum »zentralen Narrativ« geworden. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Ich denke, das hängt mit der Alleinstellung des Faschismus unter den modernen Ideologien zusammen. Er ist wohl so ziemlich das einzige einvernehmliche politische Tabu, zumindest in der großen aufgeklärten Mehrheit der Gesellschaft und in der Wissenschaft. Über die Beschaffenheit des Wesens dieses Tabus herrscht jedoch eine erstaunliche Unklarheit. Wenn verschiedene Personen den Faschismus angreifen, scheinen sie oftmals über völlig unterschiedliche Dinge zu reden. Die heute gängige Verknüpfung des Faschismus mit dem Sozialismus und Kommunismus liegt auf der Hand: Im Zeitalter des Neoliberalismus ächten die bürgerliche Rechte und Mitte den Faschismus zwar weiterhin. Sie tun das aber auf eine Weise, die ihre eigene Agenda begünstigt, indem sie sagen: Der Faschismus und der Nationalsozialismus waren abscheulich, weil sie einen Angriff auf die Freiheit des Einzelnen und den freien Markt darstellten; sie waren der Höhepunkt populistischer Ressentiments gegen die freie und wettbewerbsorientierte Gesellschaft, die auf individueller Leistung basiert. Ihrer Auffassung nach hat sich der Faschismus ähnlich wie die Linke auf den »Weg zur Knechtschaft« begeben, wie Hayek es nannte. Das nährt die Idee, dass Kapitalismus und Freiheit nahezu identisch sind und jeder Ansatz, sie infrage zu stellen, illegitim ist und zwangsläufig in die Barbarei führen muss. …
Das komplette Gespräch erscheint in der Melodie & Rhythmus 1/2022, erhältlich ab dem 17. Dezember 2021 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.