Melodie & Rhythmus

In Konflikt

26.04.2016 15:40
Foto: Maxim Shemetov / Reuters

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Musik und gewerkschaftlicher Kampf in Luigi Nonos »La fabbrica illuminata«

Gerfried Tschinkel

Wenn ich an die Begegnungen meines Lebens zurückdenke, glaube ich, ein Begünstigter zu sein und großes Glück gehabt zu haben«, so der italienische Komponist Luigi Nono (1924– 1990). Zu diesen Begegnungen zählt vor allem jene mit Arnold Schönbergs Tochter Nuria, die er 1955 heiratete, aber auch die mit seinem Kompositionslehrer Bruno Maderna, dessen Anliegen es war, »einem beizubringen, wie man Musik in der Vorstellung hervorbringt und sie ›denkt‹«. Nono umgab sich aber nicht nur mit zahlreichen künstlerischen Größen, sondern traf auch den kubanischen Revolutionsführer Fidel Castro; in Kuba gebe es, so Nono, »eine unendliche Entschlossenheit, eine Lebensfreude […] gerade trotz der großen Schwierigkeiten«. Unter Nonos Kompositionen finden sich immer wieder klassenkämpferische Werke (er war ab 1952 Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens), die er mit den Mitteln der Neuen Musik schuf. In seinem Spätwerk vollzieht sich schließlich in der Live-Elektronik eine Synthese aus den Errungenschaften der Musique concrète, vertreten etwa durch Pierre Schaeffer, und der Elektronischen Musik, wie sie von Karlheinz Stockhausen komponiert wurde.

Musik, die nicht nur kritisch gegenüber dem Bestehenden ist, sondern direkt die Arbeiterklasse mobilisieren will, steht vor der Herausforderung, Mittel einzusetzen, die diesem Anspruch gewachsen sind. Erst mit der Wirkung des Werks zeigt sich, ob die politische Dimension, die man transportieren wollte, auch mit der musikalischen Form des Stücks verträglich ist. Von dieser Schwierigkeit weiß auch Nono zu berichten: »Einmal ergab sich auf erster Ebene das rein politische Moment […], ein anderes Mal sind es dagegen die Technologie, das Experimentieren, das Risiko, die meine Neugierde mehr wecken. In anderen Fällen […] treten beide Elemente in Konflikt miteinander, nicht in Synthese.« Ob nun ein solcher Konflikt auch in Nonos Werk »La fabbrica illuminata« (»Die erleuchtete Fabrik«, 1964) auszumachen ist, das er den Arbeitern der Italsider-Werke in Genua gewidmet hat, zeigt sich am besten daran, wie diese darauf reagiert haben.

Im Vorfeld sprach Nono mit ihnen und machte Tonaufnahmen in der Metallurgie-Fabrik. Im Text von Giuliano Scabia kommen O-Töne von Arbeitern und Zitate aus Tarifverträgen vor. Das Zusammentreffen mit Scabia – Schriftsteller, Dichter, Dramatiker – war sicher auch eine der glücklichen Begegnungen, die Nono später erinnerte. Der Text erzählt von den schwierigen Arbeitsbedingungen in der Fabrik, die der Gesundheit schaden; es heißt dort treffend: »Von acht Stunden Arbeit bekommt der Arbeiter nur zwei bezahlt.« Die genuesischen Arbeiter traten nach der Uraufführung des Werks 1964 in Venedig an Nono heran und wollten es mit ihm diskutieren. Ähnliches geschah auch andernorts. Er hatte das in der Fabrik aufgenommene Material geschickt eingesetzt und so mit dem elektronischen Material verschmolzen, dass es unmöglich wurde zu unterscheiden, wo das eine begann und das andere aufhörte. Die Arbeiter warfen Nono aber vor, die Fabrikgeräusche in »La fabbrica illuminata« seien »bei weitem nicht so stark wie die, die sie gewöhnt seien«, so Nono 1969 in einem Gespräch mit Hansjörg Pauli, und weiter: »Sie sahen ein, dass sie bisher wie Roboter in die Fabrik gegangen waren und ihre Arbeit getan hatten, ohne weiter darüber nachzudenken. Jetzt wurde ihnen durch den Vergleich plötzlich bewusst, unter welchen akustischen Bedingungen sie arbeiteten, und sie begannen sich zu überlegen, ob das denn so sein müsse, und ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, das zu ändern.«

Nonos Kompositionstechnik kann auch für die heutige Musikpraxis eine Anleitung geben. Durch die Verwendung von Geräuschen, die eine bestimmte Situation indizieren, wird auch das musikalische Material in einen genau umrissenen Bedeutungszusammenhang gebracht. Vermittelte Stimmungen verweisen dann auf eine Situation und sind somit mit politischen Inhalten aufladbar. Damit wird es möglich, die Ohnmacht der fehlenden Mittel zur Intervention, die dem Musiker auferlegt ist, theoretisch zu überwinden.

Den Artikel lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 3/2016, erhältlich ab dem 29. April 2016 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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