Melodie & Rhythmus

Where the road goes …

30.12.2014 11:41

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Bild: Reuters TV/Reuters

Im neoliberalen Zeitalter wird telemediale Kriegspropaganda nach gesamtkunstwerklichen Prinzipien gestaltet. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktion und Realität
Susann Witt-Stahl

titelDer Komponist Karlheinz Stockhausen hatte mit seiner verstörenden Behauptung, 9/11 sei »das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat«, einen Skandal ausgelöst. Die darauf folgende Empörungswelle galt möglicherweise nicht nur dem kalten Zynismus, den das von Stockhausen auf einer Pressekonferenz am 16. September 2001 Gesagte ausstrahlte. Vielleicht spürte die entrüstete Öffentlichkeit, dass mehr als nur ein Funken verborgener Wahrheit darin lag: Denn was für das Ereignis der WTC-Katastrophe nicht festzustellen war, galt durchaus für dessen Darstellung in den Medien – besonders im Fernsehen.

Dort wurden die Bilder der Flugzeugcrashs in die Twin Towers, des anschließenden Infernos und des Einsturzes der Gebäude wochenlang, Tag und Nacht, auf allen Sendern rund um den Globus wiederholt. Besonders eingefräst in das kollektive Gedächtnis der westlichen Welt haben sich die »falling men«, die Opfer, die sich aus verzweifelter Angst vor einem qualvollen Verbrennungstod aus den Wolkenkratzern gestürzt hatten.

Aber was wären diese Bilder ohne den melancholischen »Ground Zero«-Soundtrack »Only Time«? Dieser Song mit einer simplen, sehr eingängigen Melodie ist von einer traurigen Schönheit mit dem Gestus des Akzeptierens »Ja, so ist es« getragen. Dieses Motiv findet sich häufig in sentimentaler Popmusik, die laut Adorno ein versöhnendes Moment hat. Denn sie gönnt ihren Konsumenten einen Augenblick der befreienden Bewusstwerdung des eigenen unerfüllten Lebens in der kapitalistischen Gesellschaft. Sie gibt ihnen die Lizenz zum – im Alltag stetig zu leistender entfremdeter Arbeit streng tabuisierten – Weinen. »Who can say where the road goes / Where the day flows? / Only time … « Das Rührstück der irischen Sängerin Enya, eigentlich ein konventionelles Liebeslied, sollte über Wochen »die Betroffenheit der Zuschauer über die Katastrophenbilder vom 11. September ausdrücken« – so hatte damals die Redaktion von »SAT.1 News – Die Nacht« entschieden.

Die Medien präsentierten 9/11 als hochästhetische Bild-Sound-Collage. Hier wurde nach allen Regeln zeitgemäßer filmerischer Kunst zu Werke gegangen: Zeitlupe, Überblendtechnik, Einspielung von pixeligen Handkamera- Wackelbildern, die das Publikum spätestens seit Steven Spielbergs »Der Soldat James Ryan« erwartet.

Die Medien prä sentierten 9/11 als hochästhetische Bild-Sound-Collage. Hier wurde nach allen Regeln zeitgemäßer filmerischer Kunst zu Werke gegangen: Zeitlupe, Überblendtechnik, Einspielung von pixeligen Handkamera-Wackelbildern, die das Publikum spätestens seit Steven Spielbergs »Der Soldat James Ryan« erwartet.

Dass »Only Time« als Tonspur für eine TV-Inszenierung ausgewählt wurde und die Rezipienten damit gleichzeitig die von den Medien eröffnete Chance beim Schopfe packten und auch, gar vor allem, ihre »Betroffenheit« über das eigene Unglück auslebten, erklärt seinen Welterfolg. Aber noch viel mehr: Das Zusammenspiel nach innen und nach außen gerichteter Wirkungsebenen – 9/11 einerseits als eindringliche, herzzerreißende Musikfilmtragödie, andererseits als Projektionsfläche für die eigene Trauer, Verzweiflung und andere überwältigende Gefühle – eröffnet optimale Möglichkeiten zur subtilen Manipulation.

Die Produktion falschen Bewusstseins ist in der Kulturindustrie strukturell angelegt. Eine ihrer zentralen Funktionen ist es, Reklame für die bestehenden Verhältnisse zu machen und den Menschen zu »helfen«, ihre lebenslange Lohnabhängigkeit widerstandslos aushalten zu lernen. Dazu gehört, die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln zu akzeptieren, die ihre Unfreiheit zementiert.

Wie der Kulturkritiker Georg Seeßlen in seinem Aufsatz »Von Stahlgewittern zur Dschungelkampfmaschine« anmerkte, muss für eine erfolgreiche Kriegsmobilisierung der Gesellschaft nicht nur die »Moral des Menschlichen« neutralisiert, sondern es müssen auch die wahren (ökonomischen) Motive für den Einsatz militärischer Gewalt verheimlicht werden. »So schafft der Krieg eine zweite Wirklichkeit, die sich einerseits durch eine delirierende, rauschhafte Wahrnehmung der Geschehnisse und andererseits durch einen Mythos ausdrückt, den jeder Krieg entwickelt und zu dem offizielle Propaganda einen Teil beisteuert.«

Eine effiziente Aufrüstung der Sinne und Emotionen der Menschen bedarf Hightech-Medien, die eine gesteigerte Wahrnehmung forcieren können. Was im Zweiten Weltkrieg noch vorwiegend das Radio geleistet hatte, übernahm mit Beginn des Kalten Krieges das Fernsehen – mit dem Unterschied, dass letzterem statt einer zwei Dimensionen der sensualistischen Beeinflussung zur Verfügung stehen: die auditive und die visuelle. Deren Zusammenwirken ist unabdingbar für die Umsetzung eines ästhetischen Konzeptes, das Mitte des 19. Jahrhunderts von Richard Wagner entworfen, aber erst durch den Entwicklungsstand der Produktivkräfte des 20. Jahrhunderts realisierbar wurde: das Gesamtkunstwerk.

Ausgangspunkt war die These, dass die Einzelkünste keine bedeutenden Akzente mehr setzen könnten, wahre Kunst nur im Musikdrama zu verwirklichen sei – mit der ganzen Welt als einer großen Bühne. Von großer Bedeutung ist die suggestive, manipulative Wirkung auf das Publikum, dessen Sinne und Emotionen bis zum Äußersten affiziert und das zu einer völlig in den Bann des Kunstwerks gezogenen Gemeinschaft zusammengeschweißt werden soll – ein durch und durch totalitäres Konzept.

Im Zeitalter des Neoliberalismus – in dem sich die ökonomische Basis zunehmend totalitär konstituiert und Kultur und Medien diese Radikalisierung des Kapitalismus unweigerlich abbilden – vollzieht sich seine Realisierung im Dienst der Kriegspropaganda im Zuge einer fortschreitenden »Ästhetisierung der Politik« (die Walter Benjamin als Strukturmerkmal der faschistischen Gesellschaft herausgestellt hatte) quasi automatisch. Moshe Zuckermann spricht sogar von einer »Vergesellschaftung der Gesamtkunstwerk-Logik«.

So fungierten die in Zeitlupe dargebotenen traurigen TV-Bilder von den »falling men«, unterlegt mit dem durch Overdubbing zu sphärischen Klängen aufgepumpten Gesang von Enya, 2001 objektiv als Herzensöffner für das, was aggressive Neocon-Pressure-Groups seit Beginn der 1990er-Jahre unter Hochdruck vorangetrieben hatten: als »War on Terror« camouflierte neoimperialistische Expansion. Nicht »Only Time« war es, »who can say where the road goes«, sondern es waren knallharte Machtinteressen des Westens. Das im Subtext der 9/11-Inszenierung omnipräsente »Ja, so ist es« verwies damals weniger auf die jüngst geschehene als auf die zukünftige Tragödie – verbrecherische Angriffskriege und Menschenrechtsverletzungen.

Das kollektive Einüben einer fatalistisch-passiven Haltung und einer falschen Vorstellung von Kriegen als metaphysischen Erscheinungen, die unabwendbar über die Menschheit hineinbrechen, geschah über das hegemoniale Massenmedium Fernsehen (das einzige neben Internet und Kino, das zu einer zeitgemäßen gesamtkunstwerklichen Vermittlung fähig ist) durch »Plugging«: die permanente Wiederholung des Immergleichen in den Medien. Adorno beschrieb es bereits Ende der 1930er-Jahre im Rahmen des Radio Research Projects in Princeton als Verfahren, das dem Rezipienten »automatische Reaktionen« abnötigt und ihn konditioniert, »verzückt von dem Unausweichlichen« zu sein.

Der Philosoph Odo Marquard bescheinigte dem Gesamtkunstwerk eine »Tendenz zur Tilgung der Grenze zwischen ästhetischem Gebilde und Realität«. Die 9/11-TV-Inszenierung mit Enyas »Only Time« hatte den Terroranschlag als »Film« verkauft, aus dem man irgendwie nicht mehr rauskommt, egal was man unternimmt – Musikfilm der WTC-Tragödie, Musikfilm WTC-Tragödie.

Welche obszönen Ausmaße dieser Taumel in Kriegszeiten erreichen kann, deuteten TV-Bilder an, die entstanden, nachdem endlich verkündet worden war, »where the road goes«: Am 19. März 2003, dem Tag vor Beginn des Irakkrieges, betrat Vizeadmiral Timothy Keating, Kommandeur der 5. US-Flotte, im Persischen Golf auf dem Flugzeugträger USS Constellation eine Bühne mit einem weinenden Weißkopfadler und dem Slogan »We Will Always Remember 9-11-01« als Kulisse. Auf sein Zeichen ertönte der Queen-Hit »We Will Rock You« aus überdimensionalen Lautsprechern. Die Tausenden von Soldaten auf dem Kriegsschiff wurden zum Stampfen und Klatschen animiert – sie erschienen für einen Moment als Stars einer Grand Opera. Rock-Oper über den Irakkrieg, Rock-Oper Irakkrieg – in jedem Fall ein barbarisches (Gesamtkunst-)Werk mit 200.000 bis 600.000 echten Toten als Statisten.

Den Artikel lesen Sie in der M&R 1/2015, erhältlich ab dem 5. Januar 2015 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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