Der Berliner Singer-Songwriter Allie hat sich neu erfunden
Christoph Schrag
Den fast einatmenden Flüstergesang soll er sich aus der Not heraus angeeignet haben: Als Allie vor acht Jahren nach Berlin kam, war seine Bude angeblich so hellhörig, dass es zu unerwünschtem Nachbarschaftskontakt gekommen wäre, wenn er auch nur in Zimmerlautstärke gesungen hätte. Ob’s stimmt oder nicht: Jetzt ist die sanfte, brüchige Stimme jedenfalls sein Markenzeichen. Und das ist erstaunlich, denn eigentlich kommt er ja vom Punk – oder zumindest von ziemlich lautem Zeug mit anderen Leuten auf der Bühne. Aus kleinstädtischer Langeweile, wie er sagt, griff er zur E-Gitarre und machte mit Bruder und Kumpels eine Band auf. Mit dem Umzug in die Hauptstadt kam die teils wohl nachbarschaftlich aufgezwungene Neuerfindung mit dem Rückzug auf einen Nullpunkt, von dem aus Allie seinen Sound langsam wieder ausbaute.
Ein weiteres Merkmal des Neuanfangs war die Akustikgitarre mit dem nahezu festgewachsenen Loop-Pedal. Damit hatte er zunächst sein eigenes, fast Stilles- Kämmerlein-Orchester gebaut, wenn er live auftrat. Dementsprechend waren seine Gigs wahre Orgien der Ruhe. Und auch wenn während der Jahre nach dem Nullpunkt immer mehr Instrumente und Sounds in seine Aufnahmen eindrangen und sie zu hypnotischen Hymnen machten, stand im Zentrum jedes Songs die Gitarre. Bei Singer-Songwritern wie Allie einer ist, ist dieses Instrument fast generalverdächtig. Doch jetzt, auf dem vierten Album, spielt sie eine Nebenrolle. Denn Allie hat sich neu verliebt.
Synths und Beatmaschine haben es Allie angetan. Und nein, es ist nicht so, dass die Gitarre nur zum Songschreiben herhalten muss und die Nummern dann ins Elektronische übersetzt werden. Allie hat sich dermaßen reingefuchst in die Schrauberei an den Klangautomaten, dass er sie auch zum Komponieren benutzt. Und wie! Das Kassandrische seiner zum Düsteren neigenden Atmosphären trifft er mit den wabernden, pulsierenden Elektrosounds noch besser als zuvor. Die Visionen wirken zwingender, seine hohe Flüsterstimme noch eindringlicher inmitten der verwunschenen Landschaften. Und trotzdem gehen ihm Humor und Selbstironie nicht verloren, wenn etwa das klaustrophobische »Y/N« sich in den fast schunkeligen Anschlusstrack »The Great« hinüberrettet, der die bedrohlichen Synths in eine großmütterliche Heimorgel verwandelt. Das muss Mut und vor allem viel Frickelarbeit gekostet haben. Und nicht nur an dieser Stelle.
Während Allie auf den letzten Alben die Songs zunächst schrieb, sie dann einübte und schließlich ins Studio ging, um sie möglichst zügig aufzunehmen, passierte dieses Mal alles gleichzeitig: Schreiben, arrangieren und produzieren waren ein einziger langer Prozess, und Allie hat nahezu alles im Alleingang durchgezogen. Offenbar ist er dieser Tage erst ganz bei sich, wenn er jeden Ton und jedes Geräusch bis zum Schluss austüfteln kann.
Über ein Jahr lang hat Allie am neuen Album gefeilt. Angst, sich zu verzetteln, hatte er dabei nicht. Er kann auch Abstand nehmen, wenn es gut ist. Bis hin zur Veröffentlichung blieb Allie sein eigener Chef. Er hat sich dafür die Dienste einer Plattenfirma gemietet. Das erlaubt es Allie erstmal, sich einfach nur um seine Musik zu kümmern. Es hat sich gelohnt! Nicht nur er dürfte das Gefühl haben, dass sein neustes Album sein bislang größter Wurf ist.
Allie s/t
Motor
alliemusic.bandcamp.com
Der Beitrag erscheint in der Melodie und Rhythmus 5/2015, erhältlich ab dem 28. August 2015 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.