Adorno, Freud und das Unbehagen in der Musikkultur
Marco Maurizi
Ich saß mit einigen Freunden in der Bar des Palazzo delle Esposizioni in Rom, wo eine John-Cage-Konferenz stattfand. Plötzlich hörten wir aus dem Nebenraum den Klang von Trommeln. Er wirkte wie eine Komposition, in der es nicht möglich war, eine Ordnung zu finden. Sofort begann unter uns eine Diskussion darüber, wer der Komponist sein könnte: eines Stücks, das eindeutig zum Repertoire der Avantgardemusik der Nachkriegszeit gehörte. Boulez? Kagel? Cage? Es war in seiner Artikulationen zu obsessiv, um ein Beispiel für integralen Serialismus sein. Und seine Dynamik war zu intensiv und übertrieben, um sich in den antisubjektivistischen Kanon aleatorischer Musik einzureihen. Zu unserer Überraschung entdeckten wir schließlich, dass sich im Nebenraum etwa 20 kleine Kinder mit Perkussionen amüsierten. Mir fiel plötzlich György Ligetis Intuition ein, die paradoxe Koinzidenz von totalem Zufall und integraler Konstruktion in postwebernscher Musik. Die Erwartung des Unerwarteten, fetischisiert als System, wird in beiden Richtungen des modernen Komponierens zum totalitären Bann der Spontaneität, eine Verdinglichung, die das subjektive Hören liquidiert: Die Gegensätze berühren sich. Jenes Kinderspiel dagegen klang wie eine ironische Bestätigung jener Prognose, und gleichzeitig war es ein Ausdruck des Vergessenen hinter der Kulisse der musikalischen Zivilisation; eine Kraft, die sich destruktiv gegen die repressive Zivilisation selber richtet, aber nur in der Verwirklichung von deren Versprechen ihre Erfüllung finden kann.
Anders als Freud, der die Repression des Triebs und die Anpassung an das gesellschaftliche Realitätsprinzip für notwendig und gut hielt, haben die Freudomarxisten Adorno und Horkheimer das destruktive und unmenschliche Potential jenes Prozesses demaskiert. Für ihre Kritik der repressiven Zivilisation stellten sie den dialektischen Kern des Subjekts dar: das Selbst regt sich durch eine Dynamik von Selbsterhaltung und Naturbeherrschung. Produktiv und fortschrittlich ist der zivilisatorische Prozess, indem er die unreglementierten Impulse unter eine zentrale Ordnung bringt, die blinde Partikularität der Natur aufhebt und das Universale ermöglicht. Fatal ist aber jene Dynamik, wo sie sich als totalitär und paranoid erweist und die Möglichkeit des Anderen schlechthin durch die leere Identität mechanisch negiert. Alles, was wir als menschliche und rationale Subjekte sind, reproduziert sich nur durch die Verdrängung und Disqualifizierung des Anderen in uns (Leib, Sinnlichkeit, das Unbewusste, Kindheit, Tierheit usw.). Alles, was wir »Natur« nennen, ist eine Abbreviatur solchen Andersseins, das wir immer wieder verneinen müssen – um uns als geistige-rationale- menschliche-selbstbewusste Erwachsene zu erschaffen – und das wir aber nie wirklich ausmerzen können, weil es der geheime Motor des ganzen Prozesses bleibt. Die Stimme Freuds, der jeden Versuch, die Mechanik der Naturbeherrschung anzuhalten, als Flucht in das regressive Nirwana verwarf, ist die Stimme der Zivilisation selber, die vor einer solchen unkontrollierten Natur als permanenter Gefahr erschaudert. Adorno und Horkheimer haben versucht, die Opposition zwischen brutaler Natur und fortschrittlicher Kultur dialektisch zu behandeln und die Stimme der unterdrückten Natur als Erinnerung an das verstanden, was der Fortschritt der verblendeten Vernunft opfert, bis diese zur Regression und Verdinglichung verdammt wird. Die Natur, die uns als unmittelbarer Ursprung versperrt erscheint, zeichnet ein utopisches Bild, das Ziel eines herrschaftslosen Zustands, in dem die blutigen Widersprüche und die falschen Alternativen zur Zivilisation endlich versöhnt sind.
In diese Richtung sollte man wahrscheinlich Adornos Charakterisierung des Komponisten Alban Berg interpretieren: »Ihm gelang es, kein Erwachsener zu werden, ohne dass er infantil geblieben wäre.« »Kinder« und »Kindheit« spielen in Adornos Musiktheorie eine wichtige Rolle. Drei Zitate in seinen Musikschriften beschreiben das Verhalten eines Kind auf dem Klavier: »Das Verhältnis zum Neuen hat sein Modell an dem Kind, das auf dem Klavier nach einem noch nie gehörten, unberührten Akkord tastet. Aber es gab den Akkord immer schon, die Möglichkeiten der Kombination sind beschränkt, eigentlich steckt alles schon in der Klaviatur. Das Neue ist die Sehnsucht nach dem Neuen, kaum es selbst, daran krankt alles Neue.« Und: »Das Kind, das zu komponieren meint, wenn es auf dem Klavier herumtappt, traut jedem Akkord, jeder Dissonanz, jeder überraschenden Wendung unendliche Relevanz zu. Es hört sie mit der Frische des Zum ersten Mal, als hätte es diesen Schall, meist doch Formeln, nie zuvor gegeben; als wären sie an sich geladen mit allem, was es dabei sich vorstellt. Dieser Glaube ist nicht zu halten, und wer solche Frische zu restituieren trachtet, wird Opfer der Illusion, die jene selbst schon war.« Und: »Das Kind, das auf dem Klavier eine Melodie sucht, bietet das Vorbild alles wahren Komponierens. So unsicher und stockend, doch mit genauer Erinnerung sucht der Komponist, was vielleicht stets schon da war und was er nun wiederbringen soll, auf den unterschiedslos schwarzen und weißen Tasten der Klaviatur dessen, woraus zu wählen ist.« Zivilisation und Kindheit sind dialektisch verbunden.
Auf der einen Seite gewinnt Kunst nur durch eine gewisse Gewalt gegen die Ordnung des Tauschprinzips seine gesellschaftliche Extraterritorialität. Die »Produktivität« der Kunst »ist nicht reine Sublimierung, sondern verschränkt mit regressiven, wenn nicht infantilen Momenten«, so Adorno. »Fortschritt selber hat im Aufbegehren gegen die Konventionen etwas vom Kind, ein Regressives.« Auf der anderen Seite aber schwebt die reine Spielerei auf der Oberfläche der kapitalistischen Gesel lschaf t, ohne wirklich gefährlich zu sein. »Spiel ist im Begriff der Kunst das Moment, wodurch sie unmittelbar über die Unmittelbarkeit der Praxis und ihrer Zwecke sich erhebt. Es ist aber zugleich nach rückwärts gestaut, in die Kindheit, wo nicht die Tierheit. Im Spiel regrediert Kunst, durch ihre Absage an die Zweckrationalität zugleich hinter diese. Die geschichtliche Nötigung, dass Kunst mündig werde, arbeitet ihrem Spielcharakter entgegen, ohne seiner doch ganz ledig zu werden; der pure Rückgriff auf Spielformen dagegen steht regelmäßig im Dienst restaurativer oder archaistischer gesellschaftlicher Tendenzen. Spielformen sind ausnahmslos solche von Wiederholung.« Es ist eine allbekannte Erfahrung, dass Kinder nicht nur witzig und außergewöhnlich klingen, wenn sie musizieren. Sie tendieren auch zu langweiligen Wiederholungen von Rhythmen, Tönen usw. Aspekte jener Regression finden sich in dem Wilden, das Teil des Protests gegen den Status quo ist – zum Beispiel bei Captain Beefheart oder der Punkmusik. Aber das Ungestaltete und Diffuse, die Natur in ihrer groben Unmittelbarkeit, kommt wieder den repressiven Mechanismen der kapitalistischen Gesellschaft zur Hilfe, etwa der Kulturindustrie. Für ihre Kunden »wird eine Art musikalischer Kindersprache präpariert«. Die Regression der modernen Musikkonsumenten, die Unfähigkeit, avancierte Musik ohne Widerstand zu hören, ist ein Phänomen geplanter Infantilisierung der Massen: »Sie sind nicht kindlich, wie etwa eine Auffassung es erwarten möchte, die den neuen Hörtyp in Zusammenhang bringt mit der Einbeziehung ehedem musikfremder Schichten in das Musikleben. Sondern sie sind kindisch: ihre Primitivität ist nicht die des Unentwickelten, sondern des zwangshaft Zurückgestauten«. Alles, was Adorno das Kulinarische in der Musik nennt, beispielsweise die Neigung, sich auf das Partikulare zu fixieren (melodische Fragmente, obsessive rhythmische Patterns, lebhafte Farbe der Instrumente usw.), anstatt die musikalische Konstruktion des Ganzen zu begreifen, hat mit der Idee einer zwanghaften Regression zu tun.
Hier knüpft Adorno kritisch an Freuds Begriff von Sublimierung an, die eine der Grundkategorien der psychoanalytischen Theorie der Kultur ist. Ohne Sublimieren, stimmt Adorno mit Freud überein, wäre keine Kultur möglich: sie erklärt die Ablenkung der Triebe von »natürlichen« zu »künstlerischen« Wunschobjekten und die Entstehung des Ichs als autonomer Instanz und seine Anpassung an die gesellschaftlich akzeptierte Realität. Genau in diesem letzten Aspekt findet man das reaktionäre Moment in Freud: »Im Freudschen System fehlt es insgesamt an jedem ausreichenden Kriterium für die Unterscheidung der ›positiven‹ und ›negativen‹ Ich-Funktionen, zumal der Sublimierung und der Verdrängung. Stattdessen wird von außen her der Begriff des gesellschaftlich Nützlichen oder Produktiven einigermaßen vertrauensselig herbeizitiert.« Kunst und Musik können nicht durch den starren Gegensatz »Realität versus Phantasie« erklärt werden: Sie bieten keine imaginäre »Flucht« vor der Gesellschaft, sondern kritisieren diese durch die Mimesis des Nichtexistierenden. Ihre Rationalität ist utopisch, nicht funktionalistisch. »Künstler sublimieren nicht«, schreibt Adorno, »Ausdruck ist nicht Halluzination. Er ist Schein, gemessen am Realitätsprinzip und mag es umgehen. Nie jedoch versucht durch ihn, so wie durchs Symptom, Subjektives anstelle der Realität wahnhaft sich zu substituieren. Ausdruck negiert die Realität, indem er ihr vorhält, was ihr nicht gleicht, aber er verleugnet sie nicht; er sieht dem Konflikt ins Auge, der im Symptom blind resultiert.«
Anders als Sublimierung stellt der ästhetische Ausdruck keine bloße subjektive Projektion vor: Ihre eigentliche Vollendung ist die Herstellung eines Objektiven. Gerade hier findet man das Schlupfloch zwischen Zivilisation und Barbarei, das der konservative Freud nicht sehen konnte. Nicht alles, was wir als vernünftige Subjekte tun, lässt sich mit Sublimierung erklären. Wenn Künstler, die sich mit ihren Werken beschäftigen, nicht sublimieren, dann gilt das auch für das Kind: Seine Tätigkeit passt nicht in den produktiven Mechanismus der repressiven Tauschgesellschaft, sie macht es zum Träger eines utopischen Potentials. »In seinem zwecklosen Tun schlägt es mit einer Finte sich auf die Seite des Gebrauchswerts gegen den Tauschwert. […] Der kleine Rollwagen fährt nirgendwohin, und die winzigen Fässer darauf sind leer.« Auf rätselhafte Weise »wartet« das Spielzeug auf eine Versöhnung von Gesellschaft und Natur, die uns von der Wahl zwischen instrumenteller Vernunft und blinder Sinnlichkeit, Repression und Barbarei, befreit. »Die Unwirklichkeit der Spiele«, schreibt Adorno weiter, »gibt kund, dass das Wirkliche es noch nicht ist. Sie sind bewusstlose Übungen zum richtigen Leben.«
Utopisch wird das Kindheitsbild in der gegenwärtigen Gesellschaft nur, wenn es sich kritisch gegen die Infantilisierung der Kulturindustrie wendet. Zentral bleibt nach Adorno die »Absage an das Kinderglück«. Die musikalische Askese gegen fun verstärkt die Wahrnehmung der Differenz, die Fähigkeit, sich dem totalitären Sensorium der kapitalistischen Gesellschaft zu entziehen. Nur mittels Nostalgie des Nichtidentischen in unserer Vergangenheit bleiben wir den Hoffnungen des Kindes treu, das wir gewesen sind. Die musikalischen Ruinen in Gustav Mahlers Musik klingen wie Träume von Kinderwünschen, die wahr werden in dem Moment, wo die Versprechen der Kindheit zu spät in Erfüllung gehen. »An der Utopie hält Mahlers Musik fest in den Erinnerungsspuren der Kindheit, die scheinen, als ob allein um ihretwillen zu leben sich lohnte. Aber nicht weniger authentisch ist ihm das Bewusstsein, dass dies Glück verloren ist und erst als Verlorenes zum Glück wird, das es so nie war.« Befreit vom industriellen Diktat der systematischen Infantilisierung, gewinnt die Bestimmtheit des kindlichen Hörens seine utopischen Züge wieder: »die Möglichkeit zum Differenzieren, zum Wahrnehmen des qualitativ Verschiedenen, ist den Kindern als mimetisches Erbe eigen und wird ihnen erst von den Erwachsenen abgewöhnt, die sie zur Raison bringen.«. Eine kritische Musikpädagogik sollte das Kind auf sein eigenes Niveau erheben, anstatt es auf ein kindisches Erwachsenleben vorzubereiten. Dann könnte das Qualitative und Unordentliche der Kindheit in eine Kritik der quantitativen Herrschaft umschlagen.
Es wäre aber naiv, sich einzubilden, man könne sich der Dialektik der Zivilisation durch Zelebration des Kindseins entziehen. In einer unfreien Gesellschaft, wo der Einzelne durch seine Triebe systematisch in einen Verblendungszusammenhang eingeschlossen wird, bleibt jeder unmittelbare und individuelle Ausweg versperrt, und Rettung ist nur durch einen sozialen Prozess möglich. Wo die Klassenverhältnisse nicht modifiziert werden, glänzt das Kindesideal als bloße Negation des etablierten Realitätsprinzips. Was das Herrschaftssubjekt in der unreglementierten Welt der Kindheit erfährt, ist sein eigenes Ende, das sich nur als utopische Überwindung des gegenwärtigen Selbst ausdrücken lässt. Für eine solche Welt ist »das Entrée kaum billiger als der Tod«, schreibt Adorno. »Dämmert über Äonen die Sprache auf, die man als Kind verstand, so ist das Glück, abermals sie zu sprechen, gekettet an den Verlust von Individuatio.«
Den Artikel lesen Sie in der M&R 5/2014, erhältlich ab dem 29. August 2014 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.