Von selbst versteht sich, dass Musik als »absolute Musik« nichts als sich selbst zu vermitteln vermag, schon deshalb, weil sie nichts anderes beansprucht. Sie will von sich aus nichts repräsentieren, was außerhalb ihrer immanenten Ausdrucksmittel liegt, und ihre Ausdrucksmittel sind nun mal nicht durchs Begriffliche, mithin nicht durchs kognitiv Informative, getragen – worin sich Musik von allen anderen Kunstbereichen prinzipiell unterscheidet. Nun hat sich aber im 19. Jahrhundert die Auffassung verbreitet, aller Musik liege eine Idee bzw. ein durch Sprache, Worte und Begriffe generierter Gedanke zugrunde. Diese Auffassung stellte grundsätzlich in Abrede, dass Musik für sich selbst existiert. Entsprechend zielte sie darauf, das gängige Paradigma der absoluten Musik mit dem theoretisch ausformulierten Ideal der Programmmusik zu bekämpfen. Mit Bezug auf die hier aufgeworfenen Fragen lässt sich also zunächst behaupten, dass ihre Beantwortung davon abhängt, mit welchen der beiden Zugänge man operiert: Anhänger der absoluten Musik werden darauf insistieren, dass keinerlei Musik als solche die Gesinnung des Antifaschismus zu vermitteln vermag. Erst recht werden sie bestreiten, dass sie an sich antifaschistisch sein kann. Allein die Fragestellung würde ihnen absurd vorkommen. Demgegenüber werden Anhänger der Programmmusik proklamieren, dass die Ideenwelt des Antifaschismus (wie denn die eines jeden anderen außermusikalischen Themas) sehr wohl musikalisch umsetzbar, also durch Musik vermittelbar sei.
Aber auch diese bipolare Darstellung der Dinge erweist sich als nicht hinreichend. Das Problem ist komplexer. Denn wenn man mit Adorno postuliert, dass das lyrische Gedicht »umso vollkommener sein wird, je weniger das Gebilde das Verhältnis von Ich und Gesellschaft thematisch macht, je unwillkürlicher es vielmehr im Gebilde von sich aus sich kristallisiert«, und dieses Postulat für Kunst insgesamt übernimmt (und eben auch für Musik), dann kann der Anspruch von Musik, den Antifaschismus zu vermitteln, sich nicht einfach im Textlichen erschöpfen, sondern sie muss im Hinblick darauf auch etwas aus sich selbst heraus leisten können. Es fragt sich nur, was? Man bedenke, dass etwa die cineastischen Stil- und Ausdrucksmittel, die Sergej Eisenstein und Leni Riefenstahl in ihren Filmen entwickelt und verwendet haben, eine große Affinität aufweisen (wobei freilich davon auszugehen ist, dass Riefenstahl von Eisenstein beeinflusst und geprägt wurde, nicht umgekehrt). Das gibt zu denken, denn offenbar ist die ästhetische Dimension nicht unbedingt durch den sie vermeintlich bestimmenden Kontext (im hier erörterten Fall den der antifaschistischen Begriffs- und Gesinnungsvorlage) abgesichert. So kann ein anderer Zusammenhang nicht nur den ursprünglichen Intentionen des Werks entgegenstehen – kaum zu glauben, aber die Hymnenmelodie aus dem Schlusssatz von Beethovens Neunter Sinfonie diente seinerzeit auch als Melodie der Nationalhymne Rhodesiens –, sondern durchaus auch mit dem, zumindest äußerlich, offenbar »agnostischen« Charakter des Ästhetischen. Was, lässt sich etwa fragen, ändert sich an Beethovens Neunter, wenn sie anlässlich des 50. Geburtstags Hitlers von den Berliner Philharmonikern unter Wilhelm Furtwängler meisterhaft aufgeführt wird? Kontaminiert der unsägliche Aufführungskontext ihre Erhabenheit? Und wenn nicht, wie erklärt sich das Unbehagen, wenn nicht gar das Ekelgefühl, das sich bei jedem Antinazi beim Gedanken an dieses historische Vorkommnis wie von selbst einstellt?
Die Antwort darauf liegt wohl darin, dass man bei der psychischen Reaktion primär von der dissonanten Konstellation eines Guten im bösen Kontext geleitet wird. Das heißt aber auch, dass man sich der Immanenz der Kunst zugunsten ihres spezifischen Wirkzusammenhangs entschlägt, und zwar unweigerlich: Man möchte vielleicht die ansprechende Ästhetik der Beethoven-Musik genießen, aber man vermag es nicht – weder bei der nationalen Hymne des Apartheidregimes noch bei der Veranstaltung des verbrecherischen NS-Staates. Die Konstellation gibt den Ausschlag. Die »Marseillaise « als Kampflied der historischen französischen Revolutionäre ist eine Sache; eine zweite ihre pejorative Verwendung in Tschaikowskys »1812«, eine dritte im pathoserfüllten Treueschwur des Soldaten für seinen Kaiser in Schumanns Vertonung von Heines »Die Grenadiere«. Und selbst bei der Verwendung der »Marseillaise« in beiden Kunstwerken lässt sich die werkimmanente Eindeutigkeit ein weiteres Mal hinterfragen: Denn was genau wird in »1812« befeiert? Die Befreiung vom Eroberer – gewiss. Aber Befreiung wovon? Vom Träger der französischen Revolutionsideen zugunsten der repressiven Herrschaft einer feudal-reaktionären Zarendynastie? Und andererseits: loyaler Schwur für den selbstermächtigten Kaiser, der seinen Feldzug gegen Russland mit Hunderttausenden von treuen Soldaten begann und mit wenigen Tausenden beendete? Es erweist sich, dass selbst der die Musik einrahmende Kontext nicht hinreicht, die ideologischen Schichten ihrer heteronomen Verwendung zu entschlüsseln.
Der Vorrang der Konstellation darf auch auf den werkimmanenten Zusammenhang erweitert werden. Denn Musik verliert ihre »agnostische« Unschuld, wenn sie in den Kontext einer musikfernen Idee gebracht wird. Das ist es, was, nicht zuletzt von Nietzsche, Wagner vorgeworfen wurde: dass er die Musik letztlich degradiert. Aber die Antwort von Wagner lag auf der Hand: Ihm ging es gar nicht mehr um Musikautonomie, sondern um die gesamtkunstwerkliche Vermittlung einer im Drama angelegten Idee (und Botschaft). »Prima la musica, dopo le parole« (Erst die Musik und dann die Worte)? Eben nicht mehr; genau diese (ohnehin kontroverse) Vorstellung des Vorrangs der Musik bekämpfte das programmmusikalische Paradigma im 19. Jahrhundert; Wagners Vorstellung der Vermengung aller Kunstbereiche unter dem Primat des Dramas, mithin der übers Wort transportierten Idee, bildete dabei den Höhepunkt der Kampfansage gegen die »absolute Musik«.
So betrachtet, ist es nicht nur das Unvermögen der Musik, begriffliche Information zu übermitteln, die sie von vornherein in diesen ihren Möglichkeiten beschränkt, sondern auch die kognitive Prädominanz des Wortes im Vergleich zur Musik in der jeweiligen Konstellation und im jeweiligen Kontext, wenn es um die Vermittlung einer Idee geht. Von diesem Problem ist selbstverständlich auch der Zusammenhang, der hier beleuchtet wird, nicht unberührt: der von Musik und Antifaschismus. Und dass diese Prädominanz auch politische Auswirkungen zeitigen mag, lässt sich schon daran ermessen, mit welcher zensorischen Rigorosität zum Teil von staatlicher Seite reagiert wurde, wenn Musik sich – wie im Fall ihrer atonalen Entwicklung – zu sehr von innen her zu verselbständigen drohte. Ihre dabei durch Abstraktion entstandene Unzugänglichkeit fürs Publikum wurde mit »von oben« diktierten Verständlichkeitsvorschriften (wie etwa im »sozialistischen Realismus«) konterkariert, mit dem Ergebnis freilich, dass Kunst affirmativer wurde, mithin ihre kritisch-subversive Emphase verlor.
Ungeachtet des bedeutenden Postulats Adornos, dass nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben barbarisch sei (welches er im Hinblick darauf, dass es dennoch gilt, Leiden – eben durch Kunst – beredt werden zu lassen, zumindest teilweise widerrief); und ohne ex negativo argumentieren zu wollen, dass Musik, die vom Faschismus verfolgt wurde, sich schon darin (objektiv) als antifaschistisch erweise, lassen sich folgende exemplarische Überlegungen anführen.
Drei herausragende Werke, die direkt oder indirekt zum antifaschistischen Musikschaffen zu zählen sind, wurden in den frühen 1960er-Jahren komponiert. Sie alle basieren auf lyrischen Texten, worin denn ihr Musikalisches werkimmanent in den Kontext gestellt wurde. Darüber hinaus (ent-)standen sie aber auch in unterschiedlichen außerkünstlerischen Konstellationen, die für das hier erörterte Thema von Relevanz sind.
Über seine 1964 veröffentlichte Kantate »Mauthausen«, die Vertonung eines Liederzyklus des Dichters Iakovos Kambanellis, eines ehemaligen Insassen des KZ Mauthausen, schrieb Mikis Theodorakis: »Die Mauthausen-Lieder richten sich natürlich in erster Linie an all jene, die unter Faschismus gelitten und gegen ihn gekämpft haben. Wir alle müssen uns aber immer wieder die Verbrechen der Nazis vor Augen halten, weil dies das einzige Mittel dagegen ist, dass sich solche Dinge wiederholen könnten. Wir sehen täglich, dass der faschistische Geist noch längst nicht erloschen ist. Er zeigt oft nicht sein wahres Gesicht, aber faschistische Kulturen und Mentalitäten gibt es überall auf der Welt. Für uns, die diese Schreckenszeit durchleben mussten, ist es die wichtigste Aufgabe, unsere Kinder vor dieser Gefahr zu schützen.«
Theodorakis‘ Worte zeigen das Antifaschistische des Werkes durch dessen bewusste Apostrophierung als ein antifaschistisches an. Die Gedichttexte Kambanellis‘ lassen auch keinen anderen Schluss zu. Kann man das aber auch von Theodorakis‘ (fraglos wunderschöner) Musik, unabhängig vom Text, behaupten? Wohl kaum. Die auf dem Melos traditionellen griechischen Volksliedgutes basierenden Vertonungen der Gedichte könnten durchaus auch andere Textaussagen bedienen, wiewohl Schmerz, Trauer und Kampfgeist in ih nen als expressive Stilmittel unverkennbar angelegt sind. Dennoch, das Zusammenwirken der Textinhalte mit dem emotionalen Musikduktus und der proklamierten Politemphase als Grundhaltung suggeriert eine dezidierte antifaschistische Aussage. Künstlerischer Kontext und äußere Konstellation haben ein Meisterwerk entstehen lassen. Als komplexer erwiesen sich Entstehung und Rezeption von Dmitri Schostakowitschs 13. Sinfonie, die auf dem Poem »Babij Jar« des Dichters Jewgeni Jewtuschenko beruht, in welchem er das von der sowjetischen Regierung verantwortete Ausbleiben des Andenkens an die den Juden als Juden (u. a. in Babij Jar) während des Zweiten Weltkriegs widerfahrene Katastrophe anklagte, sich mithin mit dem jüdischen Volk identifizierte. In den Anfangszeilen des Gedichts heißt es:
Ȇber Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal.
Ein schroffer Hang – der eine, unbehauene Grabstein.
Mir ist angst. Ich bin alt heute, so alt wie das jüdische Volk.
Ich glaube, ich bin jetzt ein Jude.«
Die Rezeption war durch eine Mischung aus Empörung gegen die implizite Behauptung, die Juden hätten während des Krieges mehr gelitten als nichtjüdische Russen, und einem in Russland traditionell grassierenden, mithin auch in Sowjetrussland weiterlebenden Antisemitismus bestimmt. Gerade der von den Sowjets als antifaschistisch apostrophierte heroische Krieg der Kommunisten gegen den deutschen Nazismus geriet so in den ideologischen Dunstkreis dessen, was im 20. Jahrhundert vom (deutschen) Faschismus zur offiziellen Staatsgesinnung erhoben worden war: des Antisemitismus. Das Werk feierte zwar 1962 seine Premiere und wurde begeistert aufgenommen, aber bereits nach der zweiten Aufführung zwang man Schostakowitsch und Jewtuschenko »von oben«, Änderungen im Text der Sinfonie vorzunehmen. Im Wikipedia-Eintrag zu diesem Werk heißt es: »Zum einen sollte das Leiden der Juden auf das gesamte russische Volk verlagert werden, und zum anderen sollten die Hinweise auf das Massaker gegen Ende des Gedichts vollkommen gestrichen werden. Falls Schostakowitsch nicht mit diesen Revisionen einverstanden gewesen wäre, hätte man weitere Aufführungen des Werkes verboten.« Eine Konstellation war entstanden, in der sich Antifaschismus in der Ideologie des Antifaschismus einzurichten hatte. Bestimmt war dies durch den Text, nicht durch die Musik.
Kann das 1962 uraufgeführte »War Requiem« von Benjamin Britten, welches lateinische Texte der katholischen Liturgie und Gedichte des 1918 in der Schlacht an der Sambre gefallenen Dichters Wilfred Owen musikalisch verarbeitet, als ein antifaschistisches Werk gelten? Das englischsprachige Material der Antikriegskantate entstammt ja dem Ersten Weltkrieg, einer Zeit also vor der Heraufkunft des europäischen Faschismus. Die Aufführung erfolgte gleichwohl nach dem Zweiten Weltkrieg – und zwar in der nach ihrer Zerstörung durch einen deutschen Luftangriff wiedererrichteten Kathedrale von Coventry. Der »Anachronismus« dieser Konstellation mag zum Symbol erhoben werden. Denn im Zweiten Weltkrieg ist zum einen Krieg schlechthin als grauenhafte Schreckensdimension der Conditio humana aufgehoben, andererseits kodiert sich in ihm aber auch der globale historische Kampf gegen den Faschismus. Das zu Besiegende war in diesem Krieg der Faschismus, womit Faschismus und Krieg aneinandergerückt, mithin in der symbolischen Ordnung zusammengewachsen sind. Wenn zudem der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus zu begreifen ist, dann verbandelt sich mit jenem horrendesten aller Kriege auch die nachmalige Gewissheit, dass im zivilisierten System des vermeintlich »normalen« Alltags das Potenzial des Krieges immer schon mit angelegt ist. Nicht von ungefähr setzte Britten folgende Worte Owens der Requiems-Partitur voran: »My subject is War, and the pity of War / The Poetry is in the pity … / All a poet can do today is warn.« So auch der diese Worte zum Programm erhebende Musiker.
Den Artikel lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 3/2015, erhältlich ab dem 30. April 2015 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.