Antifaschismus auf der schiefen Bahn neoliberaler Ideologie
Susann Witt-Stahl
Erstaunliche Ansichten werden heutzutage unter dem Label »Antifa« verbreitet. Die Rückführung gesellschaftlicher Übel auf den Kapitalismus sei ein »Überbleibsel« des »Arbeiterbewegungsmarxismus«, den es zu überwinden gelte, ist in einem führenden Antifa-Organ zu lesen. Und der Sprecher eines »Bündnisses gegen Antisemitismus« forderte, »nie wieder« dürften sich kritische Linke »per se auf die Seite irgendwelcher Marginalisierter« stellen.
»Nie wieder« – das soll hingegen nicht mehr für imperialistische Kriege und andere herrschaftliche Gewalt gelten. Antimilitarismus sei »infantiler Idealismus«, die aktuellen Kriege seien »kein Exportprodukt der NATO oder der EU. Aus diesem Grund ist die Aussage falsch, Krieg beginne hier«, prangerten unlängst Antifas Proteste gegen die Bundeswehr und deutsche Waffenexporte an. Ihr Hauptfeind steht nicht mehr »im eigenen Land« – er steht links. Die NS-Ideologie sei schließlich das »Jenseits des Westens« gewesen, meinen nicht wenige Nazigegner. Daher könnten Faschisten in der Ukraine, die für die Interessen der USA und EU kämpfen, keine sein, ergänzen Politiker der Grünen.
»Die Klasse der abhängig Arbeitenden stumm zu machen. Das war (und ist) überall die soziale Substanz des Faschismus.« Reinhard Kühnls Erkenntnis soll seit Gründung der Berliner Republik nicht mehr gelten. Antifa heißt nicht mehr Kampf gegen den »nacktesten, frechsten, erdrückendsten und betrügerischsten Kapitalismus« (Brecht) – »Antifa heißt Luftangriff!«, verkündete ein Redner bereits 2003 auf einer Kundgebung von Nazigegnern, ausgerechnet am 8. Mai.
Solche Antifaschisten wollen von der Komplizenschaft der ökonomischen Eliten mit dem NS-Regime nichts wissen. Wenn man dessen Mensch- heitsverbrechen »wirklich verstehen will«, erklärte der exlinke Historiker Götz Aly, »soll man endlich aufhören, plakativ mit Namen wie ›Flick‹, ›Krupp‹ oder ›Deutsche Bank‹ zu operieren«. Die führenden Nazis wären Leute gewesen, »die wussten, was es bedeutet, wenn der Gerichtsvollzieher klingelt«. Faschismus, ist auf dem Blog einer Antifa-Gruppe aus Halle zu lesen, sei der »barbarische Rachefeldzug der Zukurzgekommenen«. Und der werde von »linken Antisemiten« gegen Banken und Konzerne (weiter-)geführt, »seit sich das Proletariat nicht seiner Ketten, sondern seiner jüdischen Nachbarn entledigte«, war auf einem Kongress an der Berliner Humboldt-Universität zu erfahren. Wer gegen die Reichen wettert, kann ja nur »die Juden« meinen.
Schuld ist der Sozialismus. »In der nestwarmen Nischengesellschaft der DDR wurde jener unheimliche Gemeinschaftsgeist konserviert und weiter kultiviert, der auch schon den Nationalsozialismus zur Massenbewegung werden ließ« (Jungle World). Daher gilt der Hass vieler Nazigegner heute den Massen – vor allem dem Kollektiv. Hatten Adorno und andere Marxisten noch gedacht, das Gefährliche am Faschismus sei die »bürgerliche Kälte« – nein, es ist die »soziale Wärme« des sozialistischen Kollektivs. Initiativen gegen rechts sollten den Faschismus vielmehr als Massenphänomen und »Revolte gegen die kalte und gefühllose Welt der kapitalistischen Moderne« in den Fokus nehmen, meint Mathias Wörsching von der VVN-BdA. Andere verlangen weitaus härtere Konsequenzen: »Der deutschen Linken und anderen Nazis das Existenzrecht entziehen!«, heißt es auf einem Antifa-Sticker.
Diese Ideologeme sind nicht neu. Der Faschismus sei eine »Abart des Kommunismus«; Faschismus und Kommunismus seien gleich, beide »kollektivistische Bewegungen«, behaupteten die Architekten des Neoliberalismus schon in den 30er- und 40er-Jahren, nachdem die bürgerliche Herrschaft ihre mörderischen Potenziale erwiesen hatte. Wer nach Auschwitz den Kapitalismus radikalisieren statt abschaffen will, dem bleibt nur eines: ihn reinwaschen. Folglich forcierte der Neoliberalismus zwei in entgegengesetzte Richtungen laufende Operationen: wirtschaftlich eine Umverteilung von unten nach oben, ideologisch, wenn es um die Last der Schuld an den Verbrechen des Faschismus geht, eine Umverteilung von oben nach unten.
Der Faschismusforscher Reinhard Opitz hatte schon nach dem Putsch von Pinochet und dem Beginn des Siegeszugs von Thatcher und Reagan erkannt, dass das Kapital einen Strategiewechsel vollzogen hatte und die neoliberalen Ideologen nicht weniger haben wollten als die Definitionsmacht über den Antifaschismus-Begriff: »Einst im Zeichen des Sozialismus – gegen den wirklichen Sozialismus und alle demokratischen Kräfte; heute im Zeichen des ›Antifaschismus‹ – gegen alle wirklichen Antifaschisten, abermals die wirklichen Sozialisten und wirklichen Demokraten.«
»Die bürgerliche
Klassenherrschaft
kämpft heute
ihren letzten
weltgeschichtlichen
Kampf unter fremder
Flagge, unter der Flagge
der Revolution.«
Rosa Luxemburg, 1918
Den Artikel lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 3/2015, erhältlich ab dem 30. April 2015 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.