Der Musikwissenschaftler Hanns-Werner Heister über politische Potenziale und Bedeutung antifaschistischer Musik
Interview: John Lütten
Musik kann antifaschistisch sein – wenn sie einen Beitrag zur Kritik an (Gewalt-)Herrschaft und kapitalistischer Ausbeutung leistet, statt sich mit den Profiteuren gemein zu machen. Doch was genau heißt das? Und wodurch unterscheidet sich antifaschistische von faschistischer Musik? Der Musikwissenschaftler Hanns-Werner Heister beantwortet diese Fragen und räumt nebenbei mit Mythen der Totalitarismustheorie auf.
Wenn von antifaschistischer Musik die Rede ist, denkt man an Musik von Antifaschisten, Musik mit antifaschistischen Texten oder solche, die für Benefizkonzerte und Demonstrationen eingesetzt wird. Aber Musik, die selbst antifaschistisch ist – was wäre darunter zu verstehen?
»Musik selbst« ist kein Ding, sondern Gegenstand in einem Prozess, der vom Einfall über die klangliche Realisierung bis zur psychisch-sozialen Wirkung reicht.
Und die muss noch in praktische Tätigkeit umgesetzt werden, um gesellschaftlich speziell eben »antifaschistisch« zu wirken. Zum etwas inflationär gebrauchten Begriff des »Antifaschistischen« möchte ich an eine vielzitierte Aussage des frühen Max Horkheimer erinnern: Wer vom Kapitalismus nicht sprechen wolle, solle vom Faschismus schweigen. Eine Parole der 68er knüpfte daran an: »Kapitalismus führt zum Faschismus. Kapitalismus muss weg!« Es wäre gut, wenn alle, die mit Musik umgehen, diesen Zusammenhang mitbedächten, um das Abgleiten des Antifaschismus in »Totalitarismus«-Ideologie und Antikommunismus zu verhindern. Dazu müssten sie heute aber besagte Parole überdenken. Denn erstens ist dieser Weg vom Kapitalismus zum Faschismus nicht zwangsläufig, sondern eine Option. Zweitens ist der Schluss, dass Kapitalismus weg muss, zwar richtig, aber die Frage, wie er wegzukriegen ist und was an seine Stelle treten soll, ist damit noch nicht beantwortet. Wahrscheinlich kann gerade in und mit Musik, wie in Kunst überhaupt, etwas von einer anderen, besseren Gesellschaft skizziert werden. Von ihr mehr zu verlangen, etwa dass sie auf sich gestellt, ohne Einbettung in soziale Bewegungen und politische Praxis, die »Marktwirtschaft« und ihre Folgen bekämpft, überfordert sie und überschätzt ihre Möglichkeiten und wirkliche Kraft.
Dazu müssten sie heute aber besagte Parole überdenken. Denn erstens ist dieser Weg vom Kapitalismus zum Faschismus nicht zwangsläufig, sondern eine Option. Zweitens ist der Schluss, dass Kapitalismus weg muss, zwar richtig, aber die Frage, wie er wegzukriegen ist und was an seine Stelle treten soll, ist damit noch nicht beantwortet. Wahrscheinlich kann gerade in und mit Musik, wie in Kunst überhaupt, etwas von einer anderen, besseren Gesellschaft skizziert werden. Von ihr mehr zu verlangen, etwa dass sie auf sich gestellt, ohne Einbettung in soziale Bewegungen und politische Praxis, die »Marktwirtschaft« und ihre Folgen bekämpft, überfordert sie und überschätzt ihre Möglichkeiten und wirkliche Kraft.
Hanns Eisler unterschied zwischen bürgerlicher und sozialistischer Musik. Der bürgerliche Schlager, schrieb er, zeuge von einer »korrupten, unaktiven musikalischen Haltung« und könne von Kommunisten nicht einfach übernommen werden, um daraus »rote Schlager« zu machen. Was also zeichnet linke gegenüber bürgerlichen Liedern aus?
Eisler wandte sich gegen den bloß »rot angestrichenen Schlager«. Seine Lieder gegen Nazismus und Krieg sind auch musikalisch anders. Das »Solidaritätslied« ist in Moll komponiert, anders als die üblichen (Volks-)Lieder, auch die der Arbeiterbewegung. Und das Lied enthält Taktwechsel, zu denen sich nicht so einfach marschieren lässt; in dem Film »Kuhle Wampe« ist das deutlich. In der Kontur der Refrainmelodie schimmert sogar das klassische Tonsymbol B-A-C-H durch – und damit der Anspruch der damaligen Arbeiterbewegung auf das »Erbe« klassischer Musik. Das ist auch heute aktuell: Die Wut gegen »verkopfte«, anspruchsvolle Musik ist künstlerisch und politisch unproduktiv. Sie baut einen falschen Feind auf, indem sie sich gegen Folgen des Bildungsprivilegs statt gegen dieses selbst richtet. Und sie verachtet die Massen, denen sie nach dem Mund redet oder zu reden meint.
Im »Einheitsfrontlied« entwickeln Brecht und Eisler 1934 eine politische, textliche und musikalische Argumentationskette. Grund und Folge, Begründung und Schlussfolgerung (»Und weil der Mensch ein Mensch ist«, »drum braucht er was zum Essen, bitte sehr«, »drum hat er Stiefel im Gesicht nicht gern« usw.) sind in den vier Strophen und im Refrain (»drum links«, »drum … in die Arbeitereinheitsfront«) zu finden. Die Vers- und Formstrukturen, die melodischen und harmonischen Beziehungen machen die politische Argumentation auch musikalisch schlüssig: Die Abfolge von Quartauftakt und Quintfall lassen das »Und weil … / Drum links« als logische Konsequenz sinnfällig erscheinen.
Derlei Ansätze hatten einen konkreten Hintergrund: Der Faschismus griff nicht nur die politischen Organisationen der Arbeiterbewegung an, sondern auch ihre Kultur. Es gab eine Arbeitermusikbewegung, die das Musizieren nicht als Instrument der Agitation begriff, sondern als Selbstermächtigung und kollektive Bildung. Welche Rolle spielte die Musik im antifaschistischen Widerstand?
Das ist ein historisches Thema. Die Bedingungen unter dem Faschismus an der Macht sind andere, unvergleichlich schlimmere als heute. Aber grundlegende Wirkungen und Funktionen der Musik sind ähnlich oder gleich in verschiedenen Situationen. Musik kann die eigene Haltung bestärken, kann trösten oder sogar nur ablenken – denken Sie an die Extremsituation KZ. Es gibt ergreifende Schilderungen zum Beispiel von der Sängerin Lin Jaldati: Fürs Überleben halfen einerseits nichtdeutsche Partisanenlieder, deren Text die Nazis nicht verstanden, aber auch ein deutsches Frühlingslied, Schuberts »Frühlingsglaube« mit dem bedeutsamen Refrain »Nun muss sich alles, alles wenden«. Heute geht es bei uns vorerst noch ums »gute Leben«. Es wäre wohl gar nicht schlecht, von diesem Leben mehr und schön zu singen und zu sprechen und dabei auch deutlich zu machen, was einem besseren oder gar guten Leben entgegensteht. Bei den Verfolgten aus der Arbeiterbewegung dienten andere Lieder der Selbstvergewisserung, allen voran die »Internationale«, heimlich gesungen. Dazu kamen neu gedichtete und komponierte Lieder aus den Lagern wie »Die Moorsoldaten«, das »Dachau-« und das »Buchenwald-Lied« und andere – sie wurden von der SS sogar geduldet; das zwang zu Vorsicht, aber Auflehnung und Widerstand artikulierten sich in der Ausführungsweise, die ebenfalls eine politische Dimension hat. So wurde in der Schlussstrophe des »Moorsoldatenlieds« das »Dann ziehn die Moorsoldaten / Nicht mehr mit dem Spaten« mit besonderer Betonung des »Nicht« gesungen. Diese Lieder gehören auch heute noch zum antifaschistischen Repertoire.
Wir erleben bis tief in die Kulturdebatten hinein eine Gleichsetzung von Sozialismus und Faschismus. Es heißt, die Arbeiterlieder wie auch die Gesänge der Faschisten seien Lieder, die zum Marschieren eingesetzt, im Kollektiv gesungen und in denen Willensstärke, Kraft und Entschlossenheit beschworen werden. Die Nazis hätten sich die Arbeiterkultur darum leicht aneignen können. Arbeiterlieder und faschistische Marschmusik – Fleisch vom selben Fleisch?
Die immer wieder aufgewärmte Legende, die Nazis hätten die Arbeiterlieder übernommen, hat einen durchsichtigen Zweck: Sie dient der »Totalitarismus«-Ideologie und der Ideologie von einer »abstrakten«, nichts über die Wirklichkeit sagenden Musik. Ernst Bloch nannte solche Übernahmen »Entwendungen aus der Kommune«. Es handelt sich dabei um wenige Fälle. Meist waren es musikalisch unspezifische, ehemalige Soldatenlieder aus dem Ersten Weltkrieg, die anders textiert werden konnten. Beim »Leuna-Lied« etwa wurde in der Zeile »In Leuna sind viele gefallen« diese Stadt durch andere zweisilbige ersetzt – etwa durch »München«, wenn die wenigen Opfer des Hitler-Putsches von 1923 gemeint sein sollten. Als Gegenstück zum »Roten Wedding« gab es einen »Braunen Wedding«; der verschwand aber rasch in der Versenkung, als nach der Machtübergabe nicht einmal mehr die »nationale« Revolution propagiert wurde. Hätten die Nazis genauer hingehört, wäre ihnen aufgefallen, dass in Eislers Originalversion zwischen den gesungenen Zeilen instrumental die Fanfare »Wacht auf, Verdammte dieser Erde!« erklingt – beim bloßen Singen entfällt das, aber bei den Auftritten im Kontext der KPD waren meist Kapellen dabei. Wer daraus auf die Identität von »Rot« und »Braun« schließt, müsste auch bei der nazistischen Übernahme des sozialdemokratischen »Wann wir schreiten Seit‘ an Seit’« oder des »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit« z. B. als »Brüder, aus Zechen und Gruben« auf die Gleichsetzung »Sozialdemokratismus = Faschismus« verfallen.
Gegen ein »Kollektiv« aus selbstbewussten, sozialen und solidarischen Individuen spricht im Übrigen nichts – im Gegenteil. Und nichts gegen »Willensstärke, Kraft und Entschlossenheit«. Das sind zwar eher »Sekundärtugenden«, aber es kommt darauf an, welchen Zwecken und Zielen sie gelten. Kraftvoll und entschlossen zu argumentieren und zu musizieren gegen die Zerstörungen, die die »Marktwirtschaft« anrichtet, ist doch gar nicht so übel – und besser als ein auf Vereinzelung verkürzter Individualismus.
Heute zelebriert Popmusik jedoch gerade den »Individualismus« der vereinzelten Warenmonade – Techno ist wohl ein Beispiel dafür. Daraus schließen manche, sie sei für faschistische Agitation grundsätzlich nicht empfänglich. Ist Pop genuin antifaschistisch?
Die Behauptung, die in dieser Frage steckt, finde ich ulkig. Selbst ich als Nicht-Pop-Experte kenne viele Beispiele für das Gegenteil, etwa Heavy oder Black Metal, das ganze Feld des »Rechtsrock« samt rechter Rapper und Liedermacher usw. Davon abgesehen ist an dieser Illusion so viel richtig, dass Faschismus heute nur an den Peripherien, etwa in der Ukraine, dem historischen ähnelt. Daher ist auch die zu den Tendenzen einer globalen und totalen Herrschaft passende Musik anders, eben vorwiegend global und nicht national. Brutal wie damals ist sie freilich oft auch, durch psychisch und sogar physisch schädigende Lautstärke und hetzende Tempi; eine Musik, die man nur dadurch auszuhalten scheint, dass man dagegen antanzt und sich körperlich abreagiert. Für das ergänzende Gegenteil zur Brutalität, die Sentimentalität, stehen als modern und zeitgemäß beispielsweise esoterisch-»meditativ« angehauchte Spielarten des House. Ansonsten ist so oder so, ob Gewaber oder Getöse, Musik dieses Formats nicht selten ziemlich konformistisch – nichts von »Anti« gegen irgendwas.
In der Ukraine müssen wir faschistische Gewaltexzesse beobachten, in Griechenland ist die »Goldene Morgenröte« noch immer stark. Europaweit erleben wir ein Anwachsen rechtspopulistischer bis faschistischer Bewegungen. Wie muss antifaschistische Musik angesichts dieser Gefahren heute beschaffen sein – und was muss sie leisten?
Zur Frage, wie solche Musik sein müsste, hatten wir ja anfangs einige Überlegungen. Was das konkret heißt, wüsste ich auch gern genauer. Was sie leisten sollte, lässt sich aber skizzieren. Gegen unmittelbare Gewalt hilft Musik unmittelbar nicht. Sie kann aber im Vorfeld wirksam gemacht werden – als eben nicht aggressive, sondern freundliche, nicht verdummende, sondern erhellende Kraft. Mit dem vernünftigen Aufgreifen lokaler, regionaler, nationaler Musikelemente könnte sie Nationalisten einigen Wind aus den Segeln nehmen. Generell sollten wir Agitation nicht mit subjektiver Erregtheit verwechseln und Aktion durch Argumentation unterfüttern und begleiten. Es kommt auch in zugespitzten Situationen darauf an, nicht zu schimpfen und zu brüllen, sondern zu denken und künstlerisch wie politisch vernünftig zu sprechen – das ist zugegeben schwierig, aber unabdingbar.
Hanns-Werner Heister
war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2011 Professor für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Methodologie der Musikästhetik und Musiksoziologie, Musik im NS-Staat, Widerstand und Exil. Foto: privat
Das Interview lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 3/2015, erhältlich ab dem 30. April 2015 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.