
Foto: Florian Steinbach
Die Liedermacher Tobias Thiele und Nicolás Miquea beim Longina-Festival in Kuba
Im Jahre 1918 sang der kubanische Musiker Manuel Corona erstmals sein Lied »Longina«. Damals konnte er nicht ahnen, dass ein Jahrhundert später ein Festival danach benannt werden würde. Seit 24 Jahren kommen in Santa Clara, einer Stadt mit rund 240.000 Einwohnern in Zentralkuba, jeden Januar für fünf Tage junge Liedermacher beim Longina-Festival zusammen – neben der Jornada de la canción política (Tag des politischen Liedes), die seit 43 Jahren in Guantánamo stattfindet, eine der wichtigsten regelmäßigen Zusammenkünfte der Trovadores außerhalb von Havanna. Das diesjährige Fest war der Grupo de Experimentación Sonora del ICAIC gewidmet, die seit ihrer Gründung 1969 zahlreiche Platten mit diversen kubanischen Größen wie Silvio Rodríguez, Pablo Milanés und Leo Brouwer aufgenommen hat.
Santa Clara ist nicht nur die Bastion, von der aus 1959 die Kubanische Revolution triumphierte und wo das Monument Che Guevaras steht, in dessen Mausoleum neben weiteren Mitkämpfern die Deutschargentinierin Tamara Bunke bestattet ist. Clara ist auch ein kulturelles Epizentrum und eine Universitätsstadt, die junge Kubaner von der ganzen Insel anzieht. Im Kulturzentrum El Mejunje, gegründet von dem Theaterdirektor Ramón Silverio, präsentiert und trifft sich die Künstlerszene.
Der in Berlin lebende chilenische Musiker und Komponist Nicolás Miquea nahm zusammen mit dem Berliner Liedermacher Tobias Thiele vom 8. bis 12. Januar 2020 auf Einladung der Künstlerorganisation Asociación Hermanos Saíz an dem Festival teil. Sie haben es als »Ehre empfunden, als Nichtkubaner überhaupt teilnehmen zu dürfen«, sagt Thiele im Gespräch mit M&R. Ursprünglich für nationale Künstler gedacht, öffnet sich die Veranstaltung in den letzten Jahren zunehmend internationalen Gästen. Als Deutscher, der auf Spanisch singt, sei Thiele aber dennoch ein Exot gewesen. Neben den Einheimischen, unter anderem Tony Ávila, Haydée Milanés und Marta Campos, waren etwa Darío Parga aus Mexiko und Pedro Pastor y Los Locos Descalzos aus Spanien dabei.
Vor Ort waren die beiden Künstler aus Deutschland von der Professionalität des Festivals und der Medienpräsenz überwältigt. »Man wurde nach jedem Konzert und bei jeder Gelegenheit von kubanischen Medien interviewt«, berichtet Tobias Thiele. Als Sohn von Reinhard Thiele, dem Mitbegründer der Organisation Cuba Sí, hat der Berliner Musiker einen engen Kuba-Bezug: Seit den frühen 90er-Jahren ist er mindestens einmal im Jahr dort. Durch Gerardo Alfonso sei er mit dem »Kuba-Lied-Virus infiziert« worden und zum Liedermachen gekommen, erklärt Thiele seine Leidenschaft. Auch für Nicolás Miquea ist die kubanische Trova einer der wichtigsten Einflüsse seiner Karriere als Künstler: Früh spielte er Stücke von Silvio Rodríguez.
Die offiziellen Konzerte sind nur ein Teil des Longina-Festivals; in den Nächten gehe es in den Parks von Santa Clara weiter, Gruppen säßen bis zum Morgengrauen in Sessions zusammen. »Man konnte leider nicht jede Nacht dabei sein, weil man das einfach nicht durchhielte«, so Thiele. Erstaunt sei er gewesen, wie aufmerksam man einander zuhöre.
Nicolás Miquea hat auf Kuba einen entscheidenden Unterschied zur westlichen Welt wahrgenommen: »Auf Festivals in den kapitalistischen Ländern spielen die jüngeren, unbekannteren Künstler zu unattraktiven Uhrzeiten auf kleinen Bühnen. Die zentralen Podien und Galatermine sind den prominenten Musikern vorbehalten, denn durch sie werden die Veranstaltungen finanziert.« In Santa Clara sei es genau umgekehrt: Die staatliche Förderung erlaube es den Organisatoren, die wichtigsten Programmpunkte mit weniger etablierten Liedermachern zu besetzen.
Die immense Bedeutung des Liedermachens sei während des Festivals jederzeit spürbar gewesen, betonen beide: Die Musik sei zugleich als Reflexion der Gegenwart, als Utopie des Möglichen wie als Waffe in politisch düsteren Zeiten begriffen worden und jederzeit auf ein aufmerksames Publikum gestoßen − fünf Tage in Santa Clara, eingehüllt in Musik und Poesie.
Miles Parker & red
Der Beitrag erscheint in der Melodie & Rhythmus 2/2020, erhältlich ab dem 13. März 2020 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.
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