20 Jahre türkischer Hip-Hop aus Deutschland
Interview: Martina Dünkelmann
Die 90er-Jahre werden im Hip-Hop als »Goldene Ära« bezeichnet. In dieser Zeit fächerte sich das Genre in regionale Untergruppen mit eigener musikalischer Prägung auf, in den USA prominent vertreten durch die rivalisierenden Stile des East und West Coast. Die Jugendkultur mit ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen in den Bereichen Musik, Tanz, Kleidung und bildender Kunst breitete sich nun rasch über die Grenzen der USA hinweg aus. Der Versuch der Selbstermächtigung der unterprivilegierten schwarzen Bevölkerung und anderer ethnischer Minderheiten wurde anfangs unter dem Schlagwort »Respect!« vorangebracht, engte sich später aber ein auf eine übersteigerte Ego-Fokussierung bis hin zum Größenwahn. Dessen ungeachtet entwickelte sich Hip-Hop zu einer Lebenseinstellung, die weltweit von Jugendlichen angenommen und geschätzt wurde.
Unter den Einwandererfamilien in Deutschland galt das vor allem für Türken zweiter oder dritter Generation. Obwohl im Vergleich zu ihren Eltern meist gut integriert, hatten sie weiterhin mit Diskriminierung zu kämpfen. Sie begriffen Hip-Hop als Chance zur Identitätsfindung und rekurrierten auf die Herkunft ihrer Eltern oder Großeltern. Die Gruppe Islamic Force aus Berlin-Kreuzberg verwendete 1992 in ihrem Song »My Melody« zum ersten Mal orientalische Samples zu englischsprachigen Reimen. 1994 schlossen sich drei Hip-Hop-Formationen aus Nürnberg, Kiel und Berlin zu der Gruppe Cartel zusammen und produzierten das erste türkischsprachige Hip-Hop-Album: »Cartel«. Drei Monate nach dem Erscheinen in Deutschland wurde es auch in der Türkei veröffentlicht und erreichte dort sofort und ziemlich überraschend die Spitze der Verkaufscharts. Einer versuchten Vereinnahmung durch türkische Nationalisten, die Grauen Wölfe, begegnete die Gruppe mit einem Beitrag zu einem antirassistischen Sampler. 1996 löste sich Cartel nach zwei Jahren intensiven Tourens auf. Doch der Funke hatte gezündet: In der Türkei waren mittlerweile ebenfalls türkischsprachige Hip-Hop-Formationen entstanden … Über das Projekt Cartel und seine Vorreiterrolle sprach M&R mit dem ehemaligen Mitglied Erci E., der gerade an seinem dritten Solo-Album arbeitet.
Wie blicken Sie rund 20 Jahre nach dem Erscheinen Ihres epochalen Albums auf Cartel zurück?
Cartel hat viele Bewegungen angestoßen. 1995 gab es schon mehr als 2,5 Millionen Türken in Deutschland, die Ende der 60er hierhin gekommen waren. Wir sind deren Kinder. Cartel bot zum ersten Mal eine Identifikation, eine lautstarke Wahrnehmung von Deutschland-Türken. Das ist in der Türkei immer noch Thema, obwohl es lange her ist. Unser bekanntester Song wurde vorletztes Jahr in der Türkei von einer großen Firma als Werbejingle verwendet. Für die Türken ist Cartel eine Legende mit einer guten Botschaft: Wir sind Türken, die in Deutschland leben! Uns gibt es – auch wenn wir nicht repräsentiert sind! Und natürlich war Cartel eine Reaktion auf Mölln, Solingen, die ersten Anschläge mit Toten 1993. Direkt danach bewirkte Cartel eine Stimmung, die vielen Deutschtürken so viel gegeben hat, dass mich heute noch Leute umarmen, wenn sie mich sehen, und mir sagen, wie bedeutsam das für sie war.
Das komplette Interview lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 1/2016, erhältlich ab dem 30. Dezember 2015 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.