Melodie & Rhythmus

Editorial: Neuland betreten

28.12.2015 14:02

Editorial

Die Forderung des Ausbaus der Festung Europa und der Einführung von »Obergrenzen« für die Aufnahme von Flüchtlingen wird zunehmend aggressiv formuliert. Fremdenfeindliche Hetze grassiert; darunter das perfide Gerücht über muslimische Migranten, die angeblich die »offene Gesellschaft« mit »islamistischem Terror« infiltrieren. Einige, denen das nicht reicht, schreiten zur Tat. Sie attackieren Schutzsuchende und zünden Flüchtlingsunterkünfte an. Die Eskalation auf allen politischen Ebenen macht deutlich: Hier steht weitaus mehr auf der Tagesordnung als ein Streit um Zahlen und unterschiedlichen Vorstellungen über »Willkommenskultur« – hier äußert sich auch das Bedürfnis nach Wahrung des räuberisch erworbenen Besitzstandes der »zivilisierten Welt«. Die Menschen, die derzeit über das Mittelmeer oder die Balkanroute zu uns kommen, halten uns den Spiegel vor: Ihre Not und ihr Elend bezeugen die Verbrechen des westlichen Imperialismus, dessen Bombenterror in den vergangenen Jahrzehnten Hunderttausende getötet und die Lebenswelten von Millionen in Trümmerwüsten verwandelt hat.

Es spricht für sich, dass prominente Musiker, die auch gern mal PR für Auslandseinsätze der Bundeswehr machen, »besorgten« Politikern und Bürgern das Wort reden. »Wenn Sie einen trockenen Schwamm nehmen und Wasser darauf gießen, wird er eine Menge aufnehmen. Aber irgendwann läuft es unten wieder raus. Das Gefährlichste, was uns passieren kann, ist, dass wir nicht mehr helfen können. Weil wir dazu nicht mehr in der Lage sind«, versuchte Peter Maffay in Bild am Sonntag die krude Botschaft an den Mann zu bringen: Wenn wir die Flüchtlinge an den Grenzen abweisen, dann geschieht das nur zu ihrem Besten. Darüber hinaus fühlte sich der Sänger auch noch berufen, den Neuankömmlingen eine Lektion über westliche Werte zu erteilen. »Peter Maffay schickt klare Warnung an Flüchtlinge«, triumphierte Die Welt.

Zu dieser Meinungsmache will M&R in ihrer ersten Ausgabe des neuen Jahres eine Antithese setzen und über das Medium Tonkunst aufklärerische und emanzipative Perspektiven auf den Themenkomplex Migration und Flucht einnehmen. Für eine Kulturzeitschrift heißt das, nicht nur über, sondern auch mit geflüchteten Musikern zu reden und wenigstens einigen Raum zu geben, ihre Geschichten zu erzählen. Dabei geht es um mehr als ums Zuhören und Verstehen. Es geht um die Rezeption und Aneignung von etwas immens Wertvollem, das Flüchtlinge und Migranten »mitbringen«. Nicht billige Arbeitskraft, nicht Exotik – gemeint sind Begegnungen jenseits jeglicher Warentauschlogik, die der Schriftsteller Lion Feuchtwanger in seinem Roman »Exil« beschrieb: »Wer ein Emigrant ist, lernt, was eine Heimstätte bedeutet, wer die Hauslosigkeit kennengelernt hat, spürt umso tiefer, wie ein Haus beschaffen sein muss, um eine Wohnstätte für Menschen zu sein.« Es gilt also, sich einen ebenso kritischen wie visionären Zugang zu unserem Gesellschaftsbau vermitteln zu lassen, den nur Vertriebene, Verfolgte und die öffnen können, die erlebt haben, was Anders- und Fremdsein bedeutet. Womit sollte das eindringlicher geschehen als durch eine universelle Sprache, mit der Gefühle, Stimmungen, Haltungen ausgedrückt werden können und gegen die Frontex machtlos ist? »Kein Sound ist illegal«, sagt der Klangkünstler Georg Klein und zeigt uns die Interventionspotenziale von Musik in den Migrationsdebatten. Kulturprojekte mit jugendlichen Flüchtlingen lassen uns den ungeheuren Mut ermessen, den Menschen aufbringen, wenn sie alles aufgeben und in einer anderen Welt einen Neubeginn wagen – beispielsweise das Musiktheater »Neuland«. Liebe Leser, worauf warten wir noch? Lassen Sie uns aufbrechen und es gemeinsam betreten …

Susann Witt-Stahl
Chefredakteurin M&R

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