
Foto: Filmstills M.I.A. »Borders«
Migration als Dynamo künstlerischen Ausdrucks
Fabian Schwinger
Der Begriff »Migration« umschreibt auf nüchtern-abstrakte Weise die räumliche Verlegung des Lebensmittelpunkts von Individuen oder gesellschaftlichen Gruppen. Auch wenn die Fähigkeit, den Wohnort zu wechseln, zurecht als »wesentlicher Aspekt des Humankapitals« (Massimo Livi Bacci) gepriesen wird – ihre Anwendung erfolgt längst nicht immer freiwillig, sondern wird heute regelmäßig durch Krieg, Verfolgung, ökonomische Krisen oder ökologische Katastrophen erzwungen. Das pittoreske Element der Wanderschaft, das sich aus dem lateinischen Ursprung »migrare« in die heutige Bedeutung des Worts herübergerettet hat, leitet fehl, wie uns täglich durch das Schicksal von Millionen vor dem Krieg in Syrien flüchtenden Menschen auf dramatische Weise vor Augen geführt wird. Die Landschaft, durch die es geht, wird nicht genossen, sondern stellt für die Wanderer ein Hindernis dar, das es zu überwinden gilt: das Mittelmeer, die winterliche »Balkanroute«. Schwieriger noch wird das Unterfangen, weil die Landschaft zusätzlich durch nationalstaatliche Grenzen kartiert ist: Zäune werden errichtet, Kontrollen verschärft, Obergrenzen verhandelt. Weit davon entfernt, die Tragik der Diaspora zu verharmlosen, vereint der Begriff der Migration so verschiedene Phänomene wie Flucht, Einwanderung und Verschleppung unter dem analytischen Radar von Fortbewegung, Grenzerfahrung und der Veränderung sozialer Bezugsräume.
Gehört Mobilität von Personen – neben der von Geld und Waren – in unserer globalisierten Welt zum Alltag, resultierte sie im Lauf der Geschichte aus den unterschiedlichsten Anlässen: Zu den bedeutsamsten Bewegungsströmen vor dem 19. Jahrhundert zählt die mit Ende des 15. Jahrhunderts einsetzende Kolonialisierung der »Neuen Welt« durch die Europäer, weil mit ihr die Besiedlung der klassischen Einwanderungsländer USA, Kanada und Australien seinen Lauf nimmt. Diese dynamisiert sich im Zeitalter der Industrialisierung, bedingt durch hohes demografisches Wachstum bei gleichzeitig schwindenden Erwerbsmöglichkeiten in der Landwirtschaft. In dem Zeitraum von 1840 bis 1932 immigrieren 34,2 Millionen Europäer in die USA, 5,2 nach Kanada und 3,5 nach Australien. Im 20. Jahrhundert setzen zwei Weltkriege einen blutigen Mahlstrom aus Flucht, Vertreibung und Verschleppung in Gang: Weil die Idee einer im Nationalstaat vereinten ethnischen Gemeinschaft Diskriminierungen Vorschub leistet, zwingen Grenzverschiebungen und neue Staatsgründungen schon nach dem Ersten Weltkrieg Millionen Menschen zur Migration. Noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gehen 700.000, darunter viele Juden und politisch Verfolgte, aus Deutschland, Italien und Spanien ins Exil. Nach dem Ende der Kämpfe, nachdem der Holocaust sechs Millionen Juden das Leben gekostet hat, irren weiterhin rund elf Millionen »displaced persons« – befreite KZ-Insassen, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter – heimatlos durch Europa.
Den kompletten Artikel lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 1/2016, erhältlich ab dem 30. Dezember 2015 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.
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