Melodie & Rhythmus

Afterparty des Maidan

27.04.2015 15:14

Maidan
Foto: Stringer/Reuters

Die Kunst- und Kulturszene im Westen der Ukraine hat im letzten Jahr den Weg von der Regression in die finsterste Reaktion beschritten

Andrey Ukrainskiy & Anatoliy Slobodyanyuk

Die kreative Intelligenzija war schon immer eine soziale Schicht, die der herrschenden Klasse diente, während sie zugleich auf ihrer eigenen Unabhängigkeit bestand. Deshalb braucht man sich gegenwärtig auch nicht wundern über kriegsverherrlichende Ausstellungen, Hunderte Stunden lange patriotische Videoproduktionen, Dutzende Bands, die obszöne Songs über den Präsidenten des Nachbarlandes singen, Aktionskünstler, die Monumente Lenins zum Hauptproblem und aus dem Verbrennen seiner Werke eine Performance machen.

Eine große Zahl Kreativer sprang wortwörtlich auf dem Maidan herum und rief: »Wer nicht hüpft, ist Russe.« Unter den Ultrarechten waren sie in bester Gesellschaft. So blieb es auch nicht beim Spielen von »Revolution« und »Gegenkultur«. Schnell wurde daraus handfeste Unterstützung für die reaktionärsten Strömungen im Land, die gerade an der Macht sind. In welche Richtung die Entwicklung ging, wurde schon im April 2014 in Kiew am Beispiel der Ausstellung »Vorsicht vor den Russen« im Contemporary Art Center M17 offensichtlich. »Russen« mit Sankt-Georgs-Bändern wurden in einem Käfig unter der Überschrift »Bitte nicht füttern« präsentiert. Natürlich tranken sie Wodka, spielten Balalaika, verehrten Putin und erschreckten Besucher. In jedem Land und zu jeder Zeit sind unterschiedlichste Arten von Idioten zu finden. Entscheidend ist, ob der Staat sie unterstützt und wie die Gesellschaft darauf reagiert. Ukrainische Medien berichteten wohlwollend über die bizarre Ausstellung. Die öffentliche Meinung war über sie entzweit. Es sagt alles, dass sich eine ganze Reihe »Kulturschaffender« auf die Seite der Befürworter stellte.

Ein halbes Jahr später setzte die Ausstellung »Hundert der besten patriotischen Poster« diese entmenschlichende Demagogie bruchlos fort. Die kunstlosen Plakate, die sich in ihrer Machart mitunter an alte sowjetische Vorbilder anlehnten, trugen Slogans wie »Geh nicht vorbei – töte [den Kolorad]!« (sozialchauvinistisches Schimpfwort für die Gegner der Maidan- Bewegung, abgeleitet von dem englischen Wort »colorado« für Kartoffelkäfer) und »Der Wata hat nichts zu melden!« (»Wata« oder »Watnik« hat eine ähnliche Bedeutung wie »Kolorad« und ist abgeleitet von dem ukrainischen Wort für warme Arbeitskleidung). Die meisten Exponate waren geprägt von Sexismus (manche im Grunde nichts anderes als Pin-ups), Antikommunismus, Klerikalismus und Kriegspropaganda. Die Ausstellung »War-She« in Charkiw präsentierte das Bild »Hunde der DNR«, auf dem getötete Aufständische zu sehen waren.

Offen faschistische Zeichentrickfilme über »Watniks« von der Schriftstellerin und Musikerin Irena Karpa stellten die Bevölkerung des Donbass als Untermenschen dar. Ihre fremdenfeindliche Botschaft war trotz ihrer künstlerischen Unzulänglichkeiten von der wenig originellen Grundidee bis hin zur einfallslosen Ausführung eindeutig. Karpas Machwerke wurden von einem großen ukrainischen Fernsehsender gezeigt und von den proukrainischen Massen akzeptiert.

Das ganze vergangene Jahr über arbeiteten ukrainische Kulturschaffende fleißig an der Entmenschlichung des Feindes der neuen Machthaber in Kiew. »Watniks« und »Kolorad« sind die Nachfolger der »Untermenschen« in Nazi-Deutschland und der Tutsi-»Kakerlaken« in Ruanda. Kurz nachdem die Japaner im März 1945 in der Zeitschrift der US-Marines als Läuse karikiert worden waren, fielen Brandbomben auf 67 japanische Städte. Kaum hatte die »Vorsicht vor den Russen«-Ausstellung ihre Pforten geschlossen, verbrannten die militanten Ultrarechten in Odessa mindestens 48 Menschen.

Weder die Künstler selbst noch das Publikum ihrer Elaborate scheinen verstanden zu haben, in welche Tradition sie sich hineinmanövriert haben. Eine radikale Wandlung des Verhaltens der »kreativen Intelligenz« war zwar zu erwarten, aber vor allem Leuten mit einer antifaschistischen Gesinnung haben die Gefahr, die von diesem »kulturellen Nationalismus« ausgeht, stark unterschätzt. Es hat sich längst gezeigt, dass diese Ideologie eher »nationalistisch« als »kulturell«, eher offensiv als defensiv ist.

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Rezeption von Serhij Schadan – einen bekannten ukrainischen Schriftsteller, der mit seiner Band Sobaki w Kosmosie (Hunde im All) auch in Deutschland auf Tournee war: Trotz seiner Unterstützung des Maidan, der sogenannten Antiterroroperation und seiner Teilnahme an dem Versuch, das Lenin-Monument in Charkiw zu zerstören, begegnen manche Leute, die sich selbst als »ukrainische Linke« (Linke Opposition, Autonome Arbeiterunion) apostrophieren, Schadan mit Toleranz, sogar mit Freundlichkeit.

Es gäbe viel über die Regression in der ukrainischen Kultur zu sagen. Verwesung ist ein farbenfroher Prozess, umweht von vielerlei Pesthauch. Aber am zentralen Befund ändert das nichts: Verwesung ist die Folge des Todes.

Die vielfach kritisierte These von der »Kultur« als der Summe geistiger Produkte und des Prozesses ihrer Herstellung sowie der »materiellen Produktion« als der Basis des geistigen Lebens der Gesellschaft hat in der Ukraine eine atemberaubende Bestätigung erfahren. Dieses Land produziert rein gar nichts. Bis heute ist es ein Schauplatz der endlosen Zerstückelung und des Ausverkaufs des Sowjeterbes. Außerdem gibt es russisches Gas und die russische Marine auf der Krim. Alle alternativen Entwicklungswege wurden ignoriert, wegen geringerer Profitaussichten (verglichen mit denen nach einer illegalen Machtübernahme). Der Donbass und die Krim sind einschließlich ihrer Künstler aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen – und stellen potenzielle Ausnahmen in der ukrainischen Wirtschaft dar.

Die Kunst, die sich in solch einer sterilen Umgebung wiederfindet, hat ihre Besonderheiten. Einige erfolgreiche Künstler verließen das Land. Heute führen Kulturschaffende, die ihre Karriere in den 90er-Jahren begonnen hatten, die ukrainische Kunst in die Selbstzerstörung.

Das war der kulturelle Hintergrund des Maidan: Die kreative Minderheit versteckte sich unter Janukowitsch im Pseudo-Untergrund von Ausstellungen, Konzerten und anderen Projekten, die nur für sie selbst interessant waren. Es fanden sich eine Menge »einzigartiger Individuen«, die darunter litten, dass ihnen niemand bei ihrem »Nichts-zu-sagen-Haben« zuhörte.

Der Maidan war wie ein großes Ausatmen. Dass es einem noch relativ gut ging, zählte plötzlich nicht mehr; es sollte nur noch auf die »Würde« (der Maidan wurde die »Revolution der Würde« genannt) und irgendwelche Fantasien von der »Freiheit« in der EU ankommen. Wenn man den Nerv der Halbgebildeten und Kretins trifft, sind mythische kulturelle Ausbrüche die Folge. Probleme des Stils und des guten Geschmacks störten niemanden zu jener Zeit – alles, was im Sinne des Maidan war, schien gebraucht zu werden, war adäquat und zeitgemäß.

Der Maidan und die fixe Idee, die Massen zum Aufstand bewegen zu müssen, lasten schwer auf den ukrainischen Kreativen. Deshalb neigen die Schöpfer des »Schönen« in der modernen Ukraine mehr und mehr zur Vergötterung von ästhetischem Elend, kannibalischer Morallosigkeit und Populismus. Die, die das Bedürfnis hatten, etwas laut zu sagen, und einst verzweifelt vor der gleichgültigen Menge sprachen, nehmen mit einem Mal mit Freude wahr, dass die Massen auch zuhören können. Sie nutzen die Bühne für die Darbietung chauvinistischer Parolen: »Ruhm der Ukraine – Ruhm den Helden«, »Die Nation über alles« etc. Sie glauben, die derzeitigen Machtverhältnisse bestehen ewig.

Doch sie verkalkulieren sich. Die nationale Hysterie nimmt rapide ab. Aufschwung und Fall sind die Resultate der objektiven Prozesse in Gesellschaft und Kultur, aber keine »Schöpfung« dieser »Schöpfer«. In absehbarer Zeit werden sie ihre Teilnahme an den ethisch absolut verwerflichen »Kunst«-Veranstaltungen beenden müssen – oder versuchen, sie aus ihren Biografien verschwinden zu lassen. Das wird nicht leicht sein.

Den Artikel lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 3/2015, erhältlich ab dem 30. April 2015 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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