Melodie & Rhythmus

Zerbombt

28.10.2014 14:10

Oktoberrevolution-Kulturpalast Donezk
Foto: Igor Dyda

Oktoberrevolution-Kulturpalast in Donezk Der Faschismus überzieht die Ukraine nicht nur mit Not und Elend – er vernichtet auch das Kulturerbe der UdSSR
Stanislav Retinskiy, Donezk

Im Jahr 1957 feierte die Sowjetunion den 40. Jahrestag der Oktoberrevolution. Um die historische Bedeutung des Ereignisses herauszustellen, schlossen viele Städte zum Jubiläumsdatum große Bauprojekte ab. Die Stadt Donezk – die damals Stalino hieß – war keine Ausnahme: Dort wurden der Flughafen, das Dorf Komsomolskij sowie der nach der Oktoberrevolution benannte Kulturpalast gebaut. Dieser bot einen Vorführungsraum mit 420 Plätzen, einen Lesesaal und Räume für Kunstgruppen.

In dem Gebäude, das schnell zum Aushängeschild der Region wurde, herrschte reger Kulturbetrieb: An den Nachmittagen konnten diverse Angebote, wie Musik-, Tanz-, Gesangs- oder Ballett-Unterricht, wahrgenommen werden, abends fanden Konzerte und andere Kulturveranstaltungen statt. Anfang 2011 wurde dort ein großes Jugendtreffen abgehalten, etwa 900 Menschen besuchten die Kunstveranstaltungen, die damals organisiert wurden.

Im Verlauf der 1990er-Jahre mussten viele Kulturbetriebe der ehemaligen Sowjetunion schließen, nach und nach verfielen die Gebäude. Nicht so der Kulturpalast in Donezk. Erst 2013 wurde er rundum saniert. So war – bis vor kurzem – genügend Raum vorhanden, dass der ortsansässigen Jugend ein reichhaltiges kulturelles Angebot gemacht werden konnte.

Unvorstellbar, dass der prachtvolle Bau schon ein Jahr später vollständig zerstört werden würde. Doch genau das geschah. Am 27. August 2014, während die ukrainische Armee das Zentrum der Stadt mit Artillerie beschoss, veränderte sich alles. Um 14 Uhr explodierten die ersten Geschosse. Eines davon traf das Dach eines fünfstöckigen Wohnhauses. Dass darin niemand zu Schaden kam, war Zufall: Die Bombe detonierte nicht, ein Mann blieb am Leben, weil er gerade in die Küche gegangen war, als sie durch die Decke ins Zimmer nebenan einbrach. Auf der Straße hinterließen die Einschläge tiefe Krater. Ein Betonpfahl, der Leitungsdrähte gestützt hatte, stürzte um – die Stromleitungen fielen auf ein Auto, die drei Insassen verbrannten lebendig.

Eine weitere Bombe explodierte auf dem Dach des Kulturpalastes, das in hellen Flammen aufging. Die Fensterscheiben waren unter dem Druck der Detonation geborsten; die Arbeiter, die im Haus waren, trugen tiefe Schnittwunden davon. Nur die Wände des Bauwerks blieben stehen wie ein Gerippe – innen aber wurde alles zerstört.

Die Mitarbeiter des Kulturpalastes berichten, dass das Gebäude, in dessen Keller sich ein Schutzraum für die Anwohner befunden hat, tagelang gebrannt hat. Am 19. September räumten Freiwillige dann die Trümmer beiseite. Vertreter der Führung der Volksrepublik Donezk beteiligten sich.

Die Zerstörung des im Andenken an die Oktoberrevolution errichteten Kulturpalastes durch die ukrainische Armee zeigt, dass die Junta in Kiew nicht gegen »Terroristen« und »Separatisten« kämpft – es geht ihr um die Zerstörung der sowjetisch geprägten Kultur der Region.

Übersetzung: Irina Gudz

Den Artikel lesen Sie in der M&R 6/2014, erhältlich ab dem 31. Oktober 2014 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

Ähnliche Artikel:

Anzeigen



TOP 10: April 2024

Liederbestenliste

Ältere M&R-Newsletter

Aus dem M&R-Archiv

Auf Ostfrontlinie gebracht
Nationalistische Parolen, Geschichtsklitterung, Hassexzesse, sogar Begeisterung für den totalen Krieg – einer wachsenden Zahl von Künstlern und Intellektuellen ist offenbar jedes Mittel recht, um sich der neuen Volksgemeinschaft gegen Russland anzudienen. weiterlesen

Melden Sie sich für unseren Newsletter an

Rudolstadtfestival 2023: Viva Cuba

Fotos von Katja Koschmieder und Jens Schulze weiterlesen

In eigener Sache

Stellenausschreibung
Die Verlag 8. Mai GmbH sucht eine Kulturredakteurin (m/w/d) für die Melodie & Rhythmus

*****************

Wenn die Kraft fehlt
Weshalb der Verlag 8. Mai das Kulturmagazin Melodie & Rhythmus einstellt

Leider müssen wir heute eine schmerzliche Niederlage eingestehen: Das Magazin für Gegenkultur Melodie & Rhythmus (M&R) kann nicht weiter erscheinen. Das hat verschiedene Gründe, sie sind aber vor allem in unserer Schwäche und in der der Linken insgesamt zu sehen. weiterlesen

*****************

»Man hat sich im ›Grand Hotel Abgrund‹ eingerichtet«
Zum Niedergang des linken Kulturjournalismus – und was jetzt zu tun ist. Ein Gespräch mit Susann Witt-Stahl

Ausgerechnet vor einem heißen Herbst mit Antikriegs- und Sozialprotesten wird M&R auf Eis gelegt – ist das nicht ein besonders schlechter Zeitpunkt?
Ja, natürlich. … weiterlesen

logo-373x100

Facebookhttps://www.facebook.com/melodieundrhythmus20Twitter20rss

Jetzt abonnieren

flashback