Melodie & Rhythmus

»Slava Ukrajini – heroyam slava!«

22.04.2014 15:14

A masked man plays the grand piano to an audience of anti-government protesters in the Kiev City Hall
Foto: Thomas Peter

Auf dem Maidan entfaltet sich die Ästhetisierung der Politik zum popkulturellen Gesamtkunstwerk Faschismus
Susann Witt-Stahl

Die abendlichen Gottesdienste und Heldengedenkfeiern auf der großen Bühne des Maidan in Kiew strotzen vor sakraler und kriegerischer Prachtentfaltung. Wenn dann »Schtsche ne wmerla Ukrajina« (»Noch ist die Ukraine nicht gestorben«) erklingt – die Nationalhymne, mit einer Melodie, wie sie schwermütiger nicht sein kann –, nehmen die hochgradig emotionalisierten Menschen eine weihevolle Haltung ein. Das Pathos packt ihre Herzen. Viele können die Tränen nicht zurückhalten.

Ein Mann mit Militärhelm und in Tarnuniform stimmt auf seiner Gitarre ein Lied für den Nationalhelden Stepan Bandera an. Der Anführer der 1943 gegründeten Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) und Nazikollaborateur wird in diesen Tagen als Popstar gefeiert. Sein Konterfei prangt von Bannern, T-Shirts, Schals und anderen Merchandise-Artikeln. Teenager ziehen mit Nationalfahnen über den Maidan. Sie lassen sich von den politischen Enkeln Banderas Autogramme geben: Die Milizen des Rechten Sektors, eines Bündnisses aus ultranationalistischen und faschistischen Organisationen, haben während der Straßenschlachten mit Janukowytschs Polizei immer in den ersten Reihen gekämpft.

Die Krieger des Rechten Sektors werden als strahlende Helden inszeniert. Im Flackerlicht der Feuertonnen auf dem riesigen Platz, der von einem Meer aus Kerzen und Blumen bedeckt ist, kommt ihre heroische Aura noch mehr zur Geltung. In Kampfformation erinnern sie – mit ihren verzierten Helmen, Schilden und Schlagstöcken, den Sturmmasken und den ballistischen Schutzwesten (sie ähneln den Brustpanzern der antiken Krieger) – an die Hopliten-Phalanx aus Herodots Epos, die sich mit König Leonidas 480 v. Chr. bei den Thermophylen einem übermächtigen persischen Heer entgegenstellte. »300«, die Comic-Verfilmung über den Opfergang der Spartiaten, hat unter Neuen Rechten und Neofaschisten nicht zufällig Kultstatus erlangt. In YouTube-Filmchen werden die Maidan-Einheiten mit den todesmutigen »300« verglichen – die bei der Gewalteskalation am 19. und 20. Februar Getöteten die »Himmlischen Hundert« genannt.

Zu Ehren der Kämpfer hat man zivile Grußformeln durch den martialischen UPA-Schlachtruf »Slava Ukrajini – heroyam slava!« (»Ruhm der Ukraine – Ruhm den Helden!«) ersetzt. Wenn Animateure in voller Combat-Montur dessen Ausstoß Tag für Tag hundertfach von der Maidan-Bühne herab einfordern (ein Mittel der Massensuggestion), dann erscheint es zumindest schemenhaft: Das »repressive« (das freie hat derzeit keinen Lebensraum), sich »an seiner eigenen Macht berauschende Kollektiv«, wie Adorno und Eisler die faschistische Zwangsgemeinschaft genannt hatten.

Den Soundtrack für deren Rekrutierung und Formierung liefern in den nationalistischen Kontext überführte Evergreens, wie die wunderschöne sentimentale Ballade »Ridna maty moya« (»Meine liebe Mutter«), und Popversionen von UPA-Liedern, wie »Kozhen v sertsi soldat« (»Jeder ist im Herzen ein Soldat«). Mit nationalen Erweckungsmythen und militaristischen Superzeichen aufgeladene Songs, die von Bands, etwa Tartak & Nichlava, in UPA-Uniformen dargeboten werden, haben derzeit Konjunktur. In Zeiten der Erosion der Zivilgesellschaft sorgt die Kulturindustrie seit jeher nicht nur für »Fun« – sie produziert Begeisterung für den eigenen Untergang am Fließband.

Das Zusammenwirken von Bild- und Tongewalt hat sich in den vergangenen Monaten auf dem Humus der real existierenden Tragödie in der Ukraine zu einem popkulturellen Gesamtkunstwerk ausgeformt: ein aus der Verschmelzung von modernen audiovisuellen High-Tech-Manipulationspotenzialen mit Volkskultur hervorgegangenes und ausschließlich an die Gefühle der Menschen appellierendes ästhetisches Ganzheitsgebilde. Gesamtkunstwerke zielen auf die »Ästhetisierung der Politik« – ein Mittel und Epiphänomen jedes Faschisierungsprozesses, wie der marxistische Philosoph Walter Benjamin in seinem berühmten »Kunstwerk«-Aufsatz schrieb. Diese strebt immer »einem Punkt« entgegen: Krieg.

Den Artikel lesen Sie in der M&R 3/2014, erhältlich ab dem 25. April 2014 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

 

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