Melodie & Rhythmus

Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs

25.08.2015 15:09

editorial

25 Jahre Ende der DDR. Wer bislang dachte, der Hagelschauer an Dokumentationen über den »Unrechtsstaat«, den Guido Knopp & Co seit Jahrzehnten auf uns herniedergehen lassen, sei nicht mehr zu steigern, wird in diesen Tagen eines Besseren belehrt. Da geht noch was. Je ungenierter die Berliner Republik in der EU und NATO Expansionsbestrebungen nachgeht, desto ausufernder die Empörungsolympiaden über den nicht mehr existierenden anderen deutschen Staat, von dem kein Krieg ausging. In der alten Bundesrepublik, als die Leitmedien noch keine von kritischer Intelligenz und Opposition befreite Zone waren, ernteten antikommunistische Demagogen zuweilen noch, was sie gesät hatten: Nachdem Springers Bild in der Ära finsterster Restauration »Ostzonen-Suppenwürfel bringen Krebs« getitelt hatte, kam aus der linken Kulturszene (wenn auch verspätet) mit der Band Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs ein satirischer Bumerang. Und der Song »Die sogenannte DDR«, die tönende Hallstein-Doktrin (»Die DDR, die gibt’s nicht / Sie wird nur so genannt«) von Gerd Knesel, die Karikatur eines Liedermachers, der in den frühen 80ern mit seinen von der CDU promoteten »Liedern gegen Links« in die Bütt trat, wurde zum verspotteten Mega-Flop.

Tempi passati. Je länger es die DDR nicht mehr gibt, desto weniger wird darauf gepocht, dass es sie nicht gab. Nicht sie, aber ihr Zerrbild, das man mit wachsender zeitlicher Entfernung immer düsterer zeichnen kann, wird gebraucht – zur Abschreckung: dass sich die Menschen nur ja nicht eines Tages für eine neue und bessere Alternative zum Kapitalismus erheben. So müssen sich Ex-DDR-Musiker peinlichen Verhören unterziehen, weil sie Musik gemacht haben (statt wie einst der Stauffenberg in den Widerstand zu gehen), während auf der Mauerfall-Dauerparty ins künstliche Siegerkoma Versetzte immer noch »Freiheit ist das einzige, was zählt« grölen. Eine Agenda, die offen mehr wirtschaftliche Privilegien für eine kleine Elite fordere, würde weitaus weniger Unterstützung erfahren als ein Projekt, das die individuelle Freiheit propagiert und damit ideologisch verschleiere, dass es um den Ausbau der Klassenherrschaft geht, erklärt David Harvey die Fetischisierung des Freiheitsbegriffs im neoliberalen Zeitalter.

Was tun? Die längst von der Kulturindustrie kommerzialisierte »Trabi«-Romantik und anderer Ostalgie-Kitsch bildet nur die Kehrseite, keineswegs die Antithese zu dem falschen Bewusstsein, das die Troubadoure der »freien Welt« heute produzieren. Da hilft nur Aufklärung. Rund 40 Jahre DDR-Kulturgeschichte sind untrennbar mit der Geschichte verbunden, die von fortschrittlichen Kräften kritisch reflektiert werden muss und nicht den Klitterungen der Meinungsmacher überlassen werden darf.

Die Gängelungen, denen Ernst Busch, Hanns Eisler, Paul Dessau, Bertolt Brecht, später im Popularmusikbereich beispielsweise Renft ausgesetzt waren, sind Ausdruck der Ignoranz einiger Bürokraten, die die Bedürfnisse und Potenziale von Kunst nicht (an)erkannt, sie starr von oben, mit Misstrauen statt mit Neugier betrachtet hatten. Diese Dissonanz in der DDR-Musikgeschichte schwingt mit, wenn wir unter dem Titel »DDR-Musiken – was bleibt.« einige ihrer Kapitel aufschlagen: Filmmusik, Jazz-Szene, Musiktheater, Kinderlieder u.v.m. M&R geht es dabei vor allem um eine sachliche Darstellung aus der Retrospektive derer, die sie geschrieben und erlebt haben. Aber auch um die Verteidigung des emanzipativen Gehalts von DDR-Tonkunst: Lieder, Improvisationsmusik, Opern, die im ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden entstanden sind und von einer solidarischen Gesellschaft erzählen, wo der Einzelne nicht vereinzelt, wo er Individuum sein kann. Diese Musiken gilt es als ästhetische Koordinaten für eine Zukunft zu begreifen, in der die befreite Gesellschaft nicht bloß vorscheint, sondern Wirklichkeit ist.

Susann Witt-Stahl
Chefredakteurin M&R

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