Moshe Zuckermann nimmt Abschied von Esther Bejarano
Interview: Susann Witt-Stahl
Sie wollte 2021 mit Moshe Zuckermann und anderen Freunden den 76. Jahrestag ihrer Befreiung in dem mecklenburg-vorpommerischen Städtchen Lübz feiern. Dort hatte es am 3. Mai 1945 auf dem Marktplatz ein Freudenfest gegeben: Die damals 20-jährige Esther spielte Akkordeon, ein Hitlerbild wurde verbrannt, sowjetische und US-amerikanische Soldaten fielen sich in die Arme und küssten sich. Die Feierlichkeit zur Erinnerung an diesen bewegten Tag musste pandemiebedingt verschoben werden und sollte 2022 stattfinden. Aber dazu wird es nicht mehr kommen – Esther Bejarano verstarb am 10. Juli im Alter von 96 Jahren. M&R sprach mit Moshe Zuckermann über ihre Leistungen, ihr Wirken und die Möglichkeiten, sie zu ehren und ihr Vermächtnis zu bewahren.
Was hätten Sie Esther Bejarano auf der geplanten Befreiungsfeier in Lübz gesagt?
Ich hätte mich glücklich darüber geäußert, dass sie auf dieser symbolischen Ebene noch einmal erleben darf, was seit Mai 1945 in der Realität nie wieder eingetreten ist. Durch den Kalten Krieg stand und steht ja bis heute eher zu befürchten, dass russische und amerikanische Soldaten aufeinander schießen – von Verbrüderung kann nicht mehr die Rede sein. Dass auf ihren Wunsch an die damaligen hoffnungsfrohen Ereignisse erinnert wird – dafür hätte ich sie von Herzen beglückwünscht. Und dann hätte ich sie umarmt.
Was hat die internationale jüdische Linke mit dem Tod von Esther Bejarano vor allem verloren?
Die Inkarnation dessen, was sie von Esther schon längst hätte lernen müssen: unerbittlich an der einzigen Konsequenz festzuhalten, die man als human ausgerichteter Mensch aus Auschwitz ziehen darf, und nach dem universalistischen Imperativ »Es darf nie wieder passieren – niemandem!« zu leben. Dass Esther das getan hat, ist an sich keine kleine Leistung. Dass sie es auch als eine »dort« Gewesene getan hat, ist schier unglaublich – und genau das ist nun verloren gegangen.
Für die deutsche Linke war Esther Bejarano eine Ikone, nicht nur als Vorsitzende des Auschwitz-Komitees. Sie wird auch verehrt, weil sie alten und neuen Faschisten auf allen Ebenen die Stirn bot und unermüdlich mit Lesungen in Schulen und mit Konzerten ihrer Rapband um die Köpfe und Herzen der Menschen kämpfte. Was bedeutet es für die Gesellschaft des Täterlands, dass ihre Stimme nun fehlt?
Zunächst und vor allem, dass ihre spezifische, einzigartige Stimme nicht mehr da sein wird. Man wird sich noch lange ihrer erinnern. Die Frage ist allerdings, ob sie eine Erbschaft hinterlassen hat, die nachfolgende Generationen annehmen werden. Wir wissen ja, dass es im heutigen Deutschland nicht gerade rosig aussieht und wie es um die Linke in diesem Land bestellt ist. Aber das muss nicht so bleiben. Es wird zwar keine neue Esther Bejarano geben, aber es können andere kommen, die konsequent ihre Stimme gegen Faschisten und andere Rechtsradikale erheben. Das Weiterleben von Esthers Botschaft darf nicht von der Existenz ihrer Person abhängig sein.
Esther Bejarano hatte von 1945 bis 1960 in Palästina beziehungsweise Israel gelebt. Wie hat die Öffentlichkeit in Ihrem Land auf die traurige Nachricht reagiert?
So gut wie gar nicht. An ihrem Todestag gab es eine relativ ausführliche Meldung in einem Radiosender und ein Porträt in der Tageszeitung Jedi’ot Acharonot von einem Journalisten, der in Berlin lebt. In den wenigen Berichten wurden nur ein paar biografische Daten über Esther als Auschwitz-Überlebende genannt und ihre Aktivitäten gegen Neonazis in Deutschland erwähnt. Das verwundert aber auch nicht. Esther war in Israel weitgehend unbekannt. Ihr war es ähnlich ergangen wie Erich Fried. Weil er Antizionist und israelkritisch war, wurde so gut wie keiner seiner Texte ins Hebräische übersetzt. Entsprechend wurden Esthers Antizionismus, ihre harsche Kritik an Israels Besatzungspolitik und ihre Solidarität mit den Palästinensern verschwiegen.
Komplementär dazu haben die Mainstreammedien hierzulande Esther Bejaranos Wirken als Oppositionelle gegen deutsche Politik ausgeblendet. Selbst linke Parteien und die Gewerkschaften haben es größtenteils vermieden zu erwähnen, dass Esther Bejarano immer wieder auf NS-Kontinuitäten in der BRD hingewiesen hatte: dass die Entnazifizierung verhindert, NS-Verbrechern sogar eine zweite Karriere ermöglicht und der Antikommunismus wieder zur deutschen Staatsräson erhoben worden war. Die alten Nazis liegen längst unter der Erde – warum kann man sich immer noch nicht dazu durchringen, wenigstens Bejaranos Kritik an der Nichtbewältigung der deutschen Vergangenheit zu würdigen?
Das ist eine sehr gute Frage. Es hat vermutlich damit zu tun, dass man Esther als politische Person nicht wirklich geschätzt hat. Man konnte sie als Auschwitz-Überlebende gebrauchen, die bereit ist, in Deutschland zu leben, als jüdisches Aushängeschild für den bürgerlichen Antifaschismus, der vermeintlich die Raison d’Être Deutschlands seit 1945 ausmacht. Man konnte cool finden, dass sie im hohen Alter mit einer Rapband auftrat. Aber dort, wo sie unbequem war, wo sie ans Eingemachte ging, da brauchte man sie nicht; schon gar nicht wollte man sie dafür würdigen.
Das galt erst recht für Esther Bejaranos Kritik an der Rechtsentwicklung in Israel und der Unterdrückung der Palästinenser – das alles wurde auch in Deutschland nahezu systematisch unterschlagen. In der Vergangenheit hat man sie dafür hier und da sogar heftig attackiert: Die Jüdische Allgemeine hatte sie als »lebendes Fossil« und »Urgestein der stalinistischen ›Deutschen Kommunistischen Partei‹« geschmäht und ihr »jüdischen Selbsthass« vorgeworfen. Vereinzelt gab es sogar Verleumdungen, beispielsweise und ausgerechnet von einer »Antifagruppe«, die sie als Unterstützerin des »antisemitischen Vernichtungskampfs der Hamas« bepöbelte und sogar dazu aufrief, sie zu »stoppen« …
Na ja, es ist ja klar, welcher (Un-)Geist da vorwaltet: Esther durfte als Überlebende »geliebt« werden – was da genau bei solchen Deutschen abläuft, wenn sie einem Schoah-Überlebenden begegnen, wäre mal tiefergehend zu untersuchen. Sie durfte als Antifaschistin geehrt werden. Aber bei Israel- beziehungsweise Zionismuskritik – da setzt es bei den allermeisten aus, nicht zuletzt, weil man es geschafft hat, im politischen Diskurs der vergangenen beiden Jahrzehnte Antizionismus und Kritik an israelischen Regierungen mit Antisemitismus gleichzusetzen. Ich würde sogar sagen, dass die Beispiele der Jüdischen Allgemeinen und der »Antifagruppe« indizieren, dass es heute in Deutschland prinzipiell möglich ist, jüdischen Zionismuskritikern den Status als Antifaschisten, ja selbst als Holocaustüberlebende abzuerkennen, vielleicht sogar pejorativ zu konnotieren. Eine total verkehrte Welt, die mit ideologisierten Selbstsetzungen und unverarbeiteten deutschen Befindlichkeiten zu tun hat.
Das zeigt sich daran, dass einst Verdrängtes und im Verhalten gegenüber Juden Tabuisiertes heute zunehmend ungeniert an einer anderen Minderheit abreagiert wird. Esther Bejarano hatte eine feine Sensorik für dieses Problem. »Wenn ich mir die Moslemkarikaturen anschaue, durch die der ganze Ausländerhass zum Vorschein kommt, erinnert es mich an den Stürmer, der während der Nazizeit die Bevölkerung gegen die Juden aufgehetzt hat«, sagte sie 2016 in einem jW-Interview. Hatte sie recht?
Ja, natürlich. Es ist auch vollkommen klar, warum das so ist. Antisemitismus als Bodensatz der Gesellschaft gab es in Deutschland schon immer. Das wusste man auch während der gesamten Nachkriegszeit. Allerdings wurde er nicht wirklich bekämpft – er wurde nur nach und nach tabuisiert. Das bedeutet, dass er als Ressentiment gegen Juden weiterhin besteht, aber eben versteckt. Da kamen die Islamophobie und der manifeste Araber- und Orientalenhass gerade zur rechten Zeit. Indem man nun an den Muslimen austoben darf, was man sich bei den Juden verbieten muss, hat man auch ein Ventil für das brodelnde Ressentiment gefunden und darf sich zugleich noch als »judensolidarisch« vorkommen. Die AfD ist nachgerade paradigmatisch für diesen unsäglichen Zustand.
2013 hatte Esther Bejarano während der Lampedusa-Krise gegen die inhumane Flüchtlingspolitik des Hamburger Senats protestiert. Auf der rechten Gegenseite stand Stefan Hensel, der ein Jahr später Landesvorsitzender der Deutsch-Israelischen-Gesellschaft wurde. Er machte in den sozialen Medien mit unverhohlener rassistischer Hetze Stimmung gegen die schutzsuchenden Menschen und befürwortete ihre Abschiebung. Vor einigen Monaten wurde er zum »Antisemitismusbeauftragten« des Hamburger Senats ernannt; freilich ließ er es sich nicht nehmen, auf der Trauerfeier für Esther Bejarano zu erscheinen …
So abscheulich es ist – das wundert mich mitnichten. Es ist schon lange so, dass deutsche Rechte die Nähe von israelischen Institutionen beziehungsweise des jüdischen Establishments suchen, sich mit ihnen verbandeln, gar zu »Antisemitismusbeauftragten« berufen werden – was diesen jüdischen Institutionen offenbar nicht unangenehm ist. Wenn Esther Bejarano von einer deutschen »Antifagruppe« besudelt werden kann, ohne dass es einen Aufschrei in der Öffentlichkeit gibt, dann dürfen sich auch deutsche Rassisten bei den proisraelischen jüdischen Institutionen aufgehoben fühlen. Das korrespondiert mit der Werbung von Jair Netanjahu, dem Sohn des Exministerpräsidenten Israels, für die AfD und andere europäische Rechtsradikale. Benjamin Netanjahu hat übrigens in den US-amerikanischen Evangelikalen seine treuesten Verbündeten. Der neue Ministerpräsident Naftali Bennett ist ein rechter Hardliner. Das offizielle Israel will das so, das jüdische Establishment in Deutschland offenbar auch – da kann die deutsche Rechte fröhliche Urständ feiern. Die ideologische Verkehrung der historischen Koordinaten des Holocaustgedenkens nimmt immer perversere Formen an. Das liegt vor allem daran, dass die Realität selbst sich immer perverser gestaltet.
Rolf Becker hat in seiner Trauerrede bei Esther Bejaranos Beerdigung in Anlehnung an ihren letzten Appell an alle fortschrittlichen Kräfte, »Nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht!«, den sie in ihrem Testament festgehalten hatte, dazu aufgerufen, »nichts zu verfälschen, nichts zu beschönigen, nichts zu unterschlagen«. Worüber wird heute am lautesten geschwiegen, und welche sind die bedrohlichsten Manipulationen und ideologischen Verstellungen der Realität?
Also, angesichts des heutigen Entwicklungsstands der Kommunikationsmittel, des Internets und der Verbreitung der sozialen Medien gibt es letztlich nichts mehr, worüber nicht an irgendeinem noch so entlegenen medialen Ort berichtet wird. Niemand wird künftig behaupten dürfen, »nichts gewusst« zu haben. Denn wenn man sich bloß hätte informieren wollen, dann hätte man sich so informieren können, wie es noch nie zuvor in der Geschichte möglich war. Die Frage ist vielmehr, was wahrgenommen werden soll, was man wahrnimmt oder was man wahrnehmen will. Und da offenbart sich letztlich ein strukturelles Problem der spätkapitalistischen Gesellschaft. Denn gerade weil wahllos über alles berichtet wird, entsteht eine Reizüberflutung, die alles Unrecht, alles menschengemachte Grauen, alles Unsägliche in dem Meer der Trivialitäten untergehen lässt, die dazu verabreicht werden: Hungertod in Afrika, klimabedingte Naturkatastrophen, Ziehung der Lottozahlen, Sexskandal, persönliche »Tragödien« in den Realityshows, Sportergebnisse, Abdankung des korrupten Ministers und so weiter. Das alles wird dem Konsumenten von der Medienindustrie in leicht verdaulicher Form untergejubelt, sodass durch die Berichterstattung zugleich mit den Informationslücken die politische Emphase der Menschen getilgt wird. Auch Esthers Appelle können auf diese Weise rührselig konsumiert werden. Die überfütterten Adressaten nehmen das dann nur noch zur Kenntnis – was immer »Kenntnis« überhaupt noch heißen mag.
Politische Freunde und Mitstreiter wollen die kollektive Erinnerung an Esther Bejarano und ihr Wirken durch die Benennung von Straßen und Plätzen nach ihr wachhalten. Wie kann und wie sollte man sie am besten ehren?
Natürlich ist es eine schöne Idee, eine Straße nach ihr zu benennen. Ich würde mir auch einen Esther-Bejarano-Preis wünschen für Initiativen, die von ihrem emanzipativen Streben beseelt sind; ebenso ein jährliches Symposium, auf dem Themen erörtert werden, die ihr am Herzen lagen. Aber wirklich ehren können wir Esther nur, indem wir unermüdlich für eine bessere Gesellschaftsordnung streiten – für eine sozialistische, in der Faschismus und Krieg nicht mehr möglich wären. Nur damit können wir das Andenken dieser wunderbaren Kämpferin in seinem tiefsten Sinne bewahren.
Das Interview erscheint in der Melodie & Rhythmus 4/2021, erhältlich ab dem 17. September 2021 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.