Rechtsruck der Revolten oder revolutionäre Perspektiven?
Boris Kagarlitzki, Marxistischer Soziologe und Direktor des Instituts für Erforschung der Globalisierung und soziale Bewegungen in Moskau, und Kai Ehlers, Buchautor, Journalist und Mitbegründer des kommunistischen Bundes, über die Möglichkeiten einer befreiten Gesellschaft trotz fehlenden revolutionären Kollektivsubjekts
Agenda Aufklärung wider den reaktionären Zeitgeist: M&R gibt sich die Ehre und bittet Intellektuelle mit gleichen emanzipativen Positionen, aber verschiedenen gesellschaftlichen, historischen, kulturellen Perspektiven und Erfahrungen zum Kritischen Duett.
Kai Ehlers: Als wir uns vor 30 Jahren kennenlernten, versuchte Michail Gorbatschow gerade die Sowjetunion zu reformieren. Unser gemeinsames Buch »25 Jahre Perestroika« erzählt davon, wie du mit deinen politischen Freunden versucht hast, der Entwicklung eine sozialistische Richtung zu geben. Heute sehen wir uns indessen einem semikapitalistischen Russland, einer Amerikanisierung des sogenannten Sozialstaats in Deutschland und Europa sowie einer neoliberalen Globalisierung in der ganzen Welt gegenüber. In Russland haben die Leute genug von Revolutionen. Allenfalls könnte man sich eine weitere neoliberale Pseudo-Revolution à la Alexej Nawalny gegen das »System Putin« vorstellen, gegen den Peripherie-Kapitalismus, wie du ihn nennen würdest, bzw. »hybride Strukturen«, wie ich es nenne. In vielerlei Hinsicht bewegt sich die Welt auf die finale Krise des Kapitalismus zu, aber in dessen Zentren sind keine revolutionären Kräfte in Sicht, die denen zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts vergleichbar wären. Der Schwerpunkt des Wandels hat sich auf die globale Ebene verlagert. Ich denke, dass sein mögliches Kollektivsubjekt die »Marginalisierten« sind, die »Überflüssigen«, deren Zahl weltweit wächst. Sie finden sich in der früheren Dritten und Vierten Welt, auch wenn der Prozess der Prekarisierung nicht auf diese Regionen beschränkt ist. Haben die Verdammten dieser Erde heu- te eine andere Perspektive als eine ständige, ziellose Revolte? Und welche Rolle können Europa und Russland bei dieser künftigen Entwicklung hin zu einer postkapitalistischen Gesellschaft spielen?
Boris Kagarlitzki: Es gibt viele Gründe, sich über die vergangenen Misserfolge der Linken zu ärgern, und noch mehr, um über die Zukunft besorgt zu sein. Dennoch teile ich nicht deine Sicht auf die gegenwärtige Situation. Dass eine ausformulierte Alternative fehlt, hat nichts mit der Frage nach der Möglichkeit einer Revolution zu tun.
Kai Ehlers 25 Jahre Perestroika. Gespräche mit Boris Kagarlitzki (2 Bände)
Laika Verlag
Den kompletten Artikel lesen Sie in der Melodie & Rhythmus 4/2017, erhältlich ab dem 29. September 2017 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.