Vor 200 Jahren entstand Mary Shelleys berühmter Roman »Frankenstein« – Sein Einfluss auf die Popkultur ist bis heute Ungebrochen
Matthias Rude
Erst im letzten Jahr wählten die Engländer den Song auf Platz elf der beliebtesten Nummer-eins-Hits aus den 80ern: »China in Your Hand« (1987), das erfolgreichste Stück der englischen Band T´Pau. Was kaum jemand weiß: Der eingängige Popsong hat ein Ereignis zum Thema, das sich vor genau 200 Jahren zutrug und die Geburtsstunde moderner Science-Fiction- und Horrorliteratur markiert.
1816 war das berüchtigte »Jahr ohne Sommer«; Schneefälle und Überschwemmungen hatten in Europa und den USA katastrophale Missernten und Hungersnöte zur Folge. Mary Shelley war erst 19 Jahre alt und hieß noch Mary Godwin. Sie und ihr Geliebter Percy Shelley waren vor den Eltern und der öffentlichen Meinung dem Dichter George Gordon Byron an den Genfer See gefolgt. Denn Percy, der unter anderem – inspiriert durch Marys Vater William Godwin, den Begründer des modernen politischen Anarchismus – in seinen Schriften radikale politische Positionen vertrat, war zu diesem Zeitpunkt noch mit einer anderen Frau verheiratet. »Die Abende zogen sich lange hin und ließen sich nur mit Rauschmitteln oder endlosen Diskussionen versüßen«, so der Literaturwissenschaftler Alexander Eilers. Die Dispute drehten sich auch um die Frage nach der Grundlage des Lebens und darum, wie die Elektrizität damit zusammenhing: »Vielleicht könnte man einzelne Teile einer Kreatur herstellen, zusammensetzen und mit Lebenswärme versorgen«, beschreibt Mary Shelley die Überlegungen in der Vorbemerkung zu ihrem berühmten Roman.
Die zündende Idee für » Frankenstein« kam ihr durch einen schrecklichen Wachtraum: »Ich sah das bösartige Phantom eines hingestreckten Mannes und dann, wie sich durch das Werk einer mächtigen Maschine Lebenszeichen zeigten und er sich mit schwerfälligen, halblebendigen Bewegungen rührte. Es muss grauenhaft sein; denn die Folgen allen menschlichen Strebens, den gewaltigen Mechanismus des Weltenschöpfers zu verhöhnen, wären zweifellos überaus schrecklich.«
Reges Eigenleben
Diese Entstehungsgeschichte von »Frankenstein« ist längst selbst legendär geworden. »It was a flight on the wings / Of a young girl’s dreams / That flew too far away«, wird sie in »China in Your Hand« beschrieben. Und weiter: »And we could make the monster live again / Oh hands move and heart beat on / Now life will return in this electric storm.«
Eingebrannt ins kollektive Bewusstsein der populären Kultur hat diese Szenerie sich in erster Linie durch die Verfilmung des Stoffs aus dem Jahr 1931 und deren Fortsetzungen »Frankensteins Braut« (1935) und »Frankensteins Sohn« (1939), in denen Boris Karloff das Monster spielte. So wie Viktor Frankenstein die Kontrolle über sein Geschöpf verliert, entwickelte auch Shelleys Figur ein reges Eigenleben, das mit der Romanvorlage oft kaum mehr etwas zu tun hat − und das nicht nur als Leinwandmythos, sondern auch in der Musik.
Als Geburtsurkunde des Schockrocks oder späteren Horrorpunks gilt gemeinhin der Song »Monster Mash« (1962). In der ersten Strophe wird beschrieben, wie sich Frankensteins Monster vom Labortisch erhebt und zu tanzen beginnt: »For my monster from his slab began to rise / And suddenly to my surprise / He did the mash«, so der Interpret, der sich, in Anspielung auf Boris Karloff, Bobby »Boris« Pickett nannte. Der Song wurde zum Millionenseller, zum Nummereins-Hit in den USA – und zum Vorbild für viele weitere Stücke, in denen das von Mary Shelley einst voller Grauen beschriebene Monster popkulturell persifliert wird. Die tanzende Gestalt des Monsters kann man etwa im Video zur Single »Bride of Frankenstein« (1980) der neuseeländischen Band Toy Love, in jenem zur Yazoo-Single »Don’t Go« (1982) oder im schwarz-weiß gedrehten Streifen zu »Telephone (Long Distance Love Affair)« (1983) von Sheena Easton sehen. Das Video zu »Big Time Operator« (1987) der Punkband The Dead Milkmen aus Philadelphia kombiniert den Frankenstein-Mythos mit den Legenden um Elvis Presley: Es zeigt Leadsänger Rodney Linderman als Elvis in der unverkennbaren Laborszene.
Auf die Spitze getrieben wurde diese Travestie des ursprünglichen Stoffs in dem berühmten Musical »The Rocky Horror Show«, das im Juni 1973 in London Premiere feierte: Die Gestalt von Viktor Frankenstein ist zum exzentrischen, vom Planeten Transsexual stammenden Wissenschaftler Dr. Frank N. Furter mutiert, der als seine neueste und bisher größte Schöpfung das blonde und muskelbepackte Retortenwesen Rocky Horror präsentiert, das er in erster Linie zu seinem sexuellen Vergnügen erschaffen hat. Der Stoff hat seither nicht an Faszination verloren: Derzeit wird in den USA an einer Neuverfilmung der »Rocky Horror Picture Show« fürs Fernsehen gearbeitet.
Politische Chiffre
Reminiszenzen an das Frankenstein-Thema finden sich in zahlreichen Songs – von »Dr. Stein« (1988), einem der bekanntesten Stücke von Halloween, bis zur Metallica-Single »Some Kind of Monster« (2004). Bands wie Electric Frankenstein oder Frankenstein Drag Queens from Planet 13 führen den Titel des Romans sogar im Namen.
Besonders aufwendig in Szene gesetzt haben Oomph! die Szenerie in ihrem Musikvideo zur Single »Brennende Liebe« (2004). »Es war ein Kindheitstraum von uns, einmal die Geschichte von Frankenstein quasi in Kurzform in einem Musikvideo darzustellen«, so Sänger Dero Goi gegenüber M&R. Für ihn ist die Symbolik vielschichtig: »Der Roman von Mary Shelley enthält sicherlich bewusst eine Kritik an dem Wahnsinn, der sich seinerzeit vor allem für den armen Teil der Bevölkerung in den Großstädten im Zuge der Industrialisierung manifestierte. Aber auch die ewige Sehnsucht der Menschheit nach Unsterblichkeit schwingt hier mit und die Kehrseite der Medaille, die ein derartiges Streben mit sich bringt.«
Wie Goi andeutet, liegt im Werk der politisch für ihre Zeit recht fortschrittlich denkenden Mary Shelley durchaus auch ein gesellschaftskritisches Element. Die Anarcho-Punkband Crass hat schon 1978 deutlich gemacht, dass »Frankenstein« auch als politische Chiffre verstanden werden kann: »You give us conscience money / Now you start to worry«, heißt es in »Reject of Society«. »The Frankenstein monster you created / Has turn against you now you’re hated.«
Den Artikel lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 4/2016, erhältlich ab dem 1. Juli 2016 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.
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