Thomas Metscher über neoliberale Ideologie und die totalen Kulturverhältnisse der imperialistischen Gesellschaft
Interview: John Lütten
Angeblich ist die Zeit der großen Ideologien vorüber, und der Westen hat einen aufgeklärten, »postideologischen« Zustand erreicht. Das sieht der marxistische Kulturtheoretiker Thomas Metscher jedoch ganz anders. Zusammen mit Werner Seppmann und Erich Hahn hat der emeritierte Professor für Literaturwissenschaft und Ästhetik das Buch »Kritik des gesellschaftlichen Bewusstseins. Über Marxismus und Ideologie« veröffentlicht, in dem er materialistische Ideologie- und Kulturtheorie behandelt. Mit M&R sprach er über die Ideologie des Neoliberalismus und die Möglichkeit künstlerischer Opposition.
Im Klappentext Ihres Buches halten Sie fest: »Wir leben in einem ideologischen Zeitalter.« Aber es heißt doch immer, wir würden in »postideologischen« Zeiten leben …
Ja, aber solche Befunde halte ich für »recht steilen Unfug«, wie Thomas Mann sagte. Ideologie wird dabei bloß als »Denksystem« oder »Erzählung« verstanden, und es bleibt unklar, was gemeint ist. Wir vertreten einen dialektischen Ideologiebegriff, der an Marx und Engels anschließt: In der Ideologie findet eine Verkehrung statt, in der den Menschen ihre eigene Vergesellschaftung verdreht erscheint. Sie ist nicht nur falsches Bewusstsein, sondern entspringt der gesellschaftlichen Praxis, gründet also auf realen Momenten der Gesellschaft. Darum kann – ich betone: kann – Ideolo- gie auch wahre Elemente enthalten. So gesehen, ist die Frage nach Ideologie aktueller denn je!
Sie schreiben, die Kraft der herrschenden Vermittlungssysteme sei heute sogar stärker als je zuvor und gehe weit über das hinaus, was »die Propaganda-Instrumente autoritärer Regime zu leisten imstande waren«. Auch von einem »Klima ideologischer Unterwerfungsbereitschaft« ist die Rede.
Ja, denn die Möglichkeiten der Ideologieproduktion und -vermittlung sind heute so umfassend, dass von einer totalen ideologischen Vergesellschaftung gesprochen werden muss, die bis ins Vorbewusste wirkt. Die neoliberale und – wir schließen da an Lenin an – imperialistische Gesellschaft prägt den Einzelnen von Beginn an so, dass er bis in seine sinnlichen und psychischen Regungen auf Konformismus, Wettbewerb und Konsum eingestellt ist. Das hat politische, aber auch technologische Ursachen – man betrachte allein die Möglichkeiten, die das Internet dafür bereitstellt. Das Ergebnis ist eine Bereitschaft zur Unterwerfung, die fast jeden Bereich des Lebens durchdringt und gar nicht mehr als solche empfunden wird.
Wie sieht die Kultur dieser imperialistischen Gesellschaft aus?
Das ist eine komplexe Frage. Ich denke nicht, dass es dem neoliberalen Kapitalismus wesenhaft entsprechende Formen der Kultur gibt. Sicher gibt es Kunst, die in ihrer Trivialität ganz das Bestehende bejaht – Lady Gaga etwa. Aber in der zeitgenössischen Literatur finden sich auch kritische Stimmen und Versuche, sich der herrschenden Logik zu entziehen. Der Neoliberalismus versucht eher, diese zu vereinnahmen oder in seinem Sinne umzudeuten. Er überformt die Kultur also, zugleich gibt es widerständische Potenziale. Es ist ein widersprüchliches Verhältnis.
Mit dieser Widersprüchlichkeit kann der Kapitalismus allerdings gut umgehen. Sie sprechen von »Multikulturalität als Dekor und Ornament der Macht« und von einem »Schein des Differenten«. Wie kann sich Kunst der Vereinnahmung entziehen?
Ich denke, dazu ist zweierlei erforderlich. Zum einen natürlich Kunst, die radikale Kritik übt und für progressive Ziele eintritt. Aber Kunst ist immer auf Vermittlung und Interpretation angewiesen. Darum muss auch eine alternative Rezeption wieder stark gemacht werden: Die Deutungshoheit über Kunst darf nicht dem herrschenden Zeitgeist überlassen werden, der sie apologetisch wendet und um ihren Erfahrungsgehalt bringt. Nehmen Sie nur die Werke von Brecht oder von Schostakowitsch, die man völlig zu entpolitisieren und in den bürgerlichen Konsens zu integrieren versucht! Zu kritischer und oppositioneller Kultur gehört also auch kritisches und oppositionelles Kunstverständnis, ein Gespür für das revolutionäre Potenzial auch vermeintlich »unpolitischer« Kunst.
Erich Hahn/Thomas Metscher/ Werner Seppmann Kritik des gesellschaftlichen Bewusstseins. Über Marxismus und Ideologie
Laika Verlag
ISBN: 978-3-944233-61-1, Erscheint Juni 2016, 24,90€, 360 Seiten
Das Interview lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 4/2016, erhältlich ab dem 1. Juli 2016 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.
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