Melodie & Rhythmus

Demokratie besteht nicht aus Schweigen

27.06.2017 14:15
Foto: Reuters / Herwig Prammer

Foto: Reuters / Herwig Prammer

Kolumne von Johann Kresnik

Heute vergesse ich des Öfteren, dass wir in einer Demokratie leben. Wir, die Bevölkerung, haben eigentlich gar nichts mehr zu sagen. Wieso spricht man mit uns so viele Dinge nicht ab? Es wird einfach gemacht und das Volk vor Tatsachen gestellt. Wirtschaft, Industrie und Banken halten alles in der Hand – und wir merken gar nicht, wie sie uns mit ihrem Konsumfaschismus schön langsam zermürben. Unsere Politiker sagen nichts dagegen, ihre Steuerungsversuche sind letztlich alle umsonst. Das ist nicht die Demokratie, die mir vorschwebt. Natürlich leben wir in Deutschland besser als in anderen Ländern, doch ich habe eine andere Idee von Gesellschaft: einen demokratischen Sozialismus. Der fehlt. Es gibt eine Pseudo-Demokratie, der jeder Gedanke an Sozialismus abhandengekommen ist.

Kulturschaffende können gegen diese Missstände vorgehen – einfach indem sie sie in ihren Stücken benennen: Wie unwissend wir sind. Wie die Politik im Hintergrund die Fäden zieht. Wie wir uns alles aufzwingen lassen. Es ist sehr wichtig für Choreografen, auch mal Situationen zu zeigen, die weh tun. Als Tänzer muss ich mich aus dem Klischee des Klassischen herausbewegen und Freiheit nicht nur in der Körpersprache, sondern auch im Inhalt finden. Statt mich in meiner Zelle einzusperren und zu sagen: »Ich kann aber nur ›Schwanensee‹!« Man muss Dinge aussprechen können. Die jüngeren Choreografen und Regisseure müssen wieder anfangen, politisch zu denken.

In einer richtigen Demokratie wären die Kulturschaffenden um die Enträtselung der politischen Lage bemüht. Heute versteht man unter politischem Theater oft, Flüchtlinge und Migranten auf die Bühne zu stellen und ihre Leidensgeschichte erzählen zu lassen. Dabei ist ihr Schicksal die Konsequenz einer weit größeren Entwicklung. Doch niemand macht ein Stück darüber, warum Bush im Irak einmarschiert ist. Warum der IS entstanden ist. Oder was in Afghanistan passiert. Wieso macht niemand solche Stücke? Sie trügen bei zur Enträtselung der jetzigen Situation im Nahen Osten. Sei’s drum, wenn die Rufe nach Absetzung auf dem Fuß folgen: Die Freiheit zu einem solchen Programm muss in einer Demokratie vorhanden sein. Doch die verantwortlichen Intendanten werden von Politikern ernannt, die volle Häuser wünschen – und das gelingt am besten mit »Aida«, »Zauberflöte« und »Fledermaus«.

Gegen meine Stücke gab es immer Widerstand. Weil ich meinen Mund nicht halten kann. Aber Demokratie besteht nicht aus Schweigen. In der Demokratie darf und muss jeder sagen, was er denkt und was er meint. Dann kann man darüber diskutieren. Diese versteckte Demokratie heute passt mir hingegen überhaupt nicht. Das Publikum ist zwar nie mein Freund gewesen, doch die Diskussion im Zuschauerraum hat mir stets die Freiheit gegeben, meinen Weg weiterzugehen und nicht im Konsens-Theater zu enden. Die Zuschauer aufzuregen, zu sehen, wie sie aufstehen und schreien: »So ein Stück machst du uns nie wieder!« – das ist für mich eine viel größere Befriedigung, als wenn ich mich zwanzig Mal verbeugen muss.

DER BALLETT-KÄMPFER
Kresnik»Helmut Kohl persönlich hat mir zwei Briefe geschickt, was ich eigentlich für ein bestialischer Mensch sei«, erinnert sich Johann Kresnik an die Begleitumstände der Bonner Premiere seines Stücks »Hannelore Kohl«. Der 1939 in Kärnten geborene Theaterregisseur und Choreograf hat in seiner langen skandalumwitterten Karriere Routine in der Auseinandersetzung mit Politik und Presse entwickelt. Bereits nach seinem zweiten Stück »Paradies?« (1968), das das Attentat auf Rudi Dutschke thematisierte, holte ihn Kurt Hübner als Ballettdirektor an das Bremer Theater, wo er mit radikalen Werken wie »Kriegsanleitung für jedermann« (1970), »PIGasUS« (1970) und »Die letzten Tage der Menschheit« (1999) das Publikum spaltete. »Ballett kann kämpfen!«, lautet die Devise des KPÖ-Mitglieds – entsprechend provokant seine Inszenierungen: »Die 120 Tage von Sodom« (2015) offenbarten sich als Feuerwerk sexueller Gewaltfantasien. Die Proben zu einer Premiere im mexikanischen Guanajuato absolvierte Kresnik in Polizeigewahrsam. Aktuell plant er ein Stück über die Erfinderin der »Frankfurter Küche«, Margarete Schütte-Lihotzky.
Foto: DPA

Die komplette Kolumne lesen Sie in der Melodie & Rhythmus 3/2017, erhältlich ab dem 30. Juni 2017 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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