Foto: Manuel Meira
Der Sänger Vitorino Salomé über die »Nelkenrevolution«
Vor 40 Jahren – in der Nacht vom 24. auf den 25. April 1974 – verließen portugiesische Militärs ihre Kasernen und vertrieben die Vertreter des Salazar-Regimes aus dem Land. Das Signal für den Beginn der »Nelkenrevolution« waren zwei Lieder, die im Radio ausgestrahlt wurden. Der 1942 in eine musikalische Familie hineingeborene Sänger Vitorino Salomé hat alles miterlebt. Im Pariser Exil sang er gegen das Regime an, nach der Revolution verwandelte er sich in die »Stimme des Alentejo«, indem er die Lieder seiner Heimatregion im ganzen Land bekannt machte. Viele sind heute Klassiker in Portugal und werden bei seinen Konzerten von den Zuhörern lautstark mitgesungen. Torsten Eßer traf Vitorino Salomé in Köln.
Wie wichtig war Musik für die Revolutionäre?
Die Musik hat alle Revolutionen begleitet, und das ist auch heute noch so. Es gibt eine europäische Tradition des politischen Liedes: Während der französischen Revolution hatten Lieder eine große Bedeutung, die Musik von Verdi hat den Freiheitskampf der Italiener gegen die Bourbonen und Habsburger begleitet. In Spanien gibt es schon sehr lange Protestsänger, und auch in Portugal gab es schon vor Gründung der Republik viele Lieder gegen die Monarchie. Vor 1974 hatten vor allem die Studenten gegen das Regime von Salazar angesungen, es gab schon ein großes Repertoir an Liedern. Es ist also nicht verwunderlich, dass die beiden Lieder »E depois do Adeus« (»Und nach dem Abschied«), ein wunderschönes Liebeslied, und »Grândola, vila morena« (»Grândola, braune Stadt«) ein eher ideologischer Song, die Revolution starteten.
Und von wem und warum wurde das Lied »Grândola, vila morena« als Startsignal für die meuternden Militärs ausgesucht?
Am 29. März 1974 fand ein Musikfestival statt, mit drei bis vier tausend Zuschauern. Dort waren viele Agenten der politischen Polizei (PIDE) anwesend. Aber auch die zur Revolution bereiten Militärs. »Grândola« war ein verbotenes Lied, ein Symbol des Widerstands, und das wurde dort gesungen. Ich hatte das Glück, dabei zu sein, gemeinsam mit José Afonso, dem Komponisten des Liedes, und vielen anderen Sängern. Alle standen auf und sangen, und zum ersten Mal hatte die Polizei Angst und unternahm nichts, was wohl auch an der Anwesenheit der Soldaten lag. In dieser Nacht haben die Anführer der Revolution entschieden, dass »Grândola« das Signal zum Ausrücken des Militärs sein sollte, weil es sehr emotional war und sehr an die Einheit der Menschen appellierte, und außerdem ist es einfach zu singen.
Der Sänger José »Zeca« Afonso spielte also eine wichtige Rolle in dieser Zeit?
Sie war tragend, denn er hatte schon seit seiner Studienzeit in Coimbra gegen das Re- gime gearbeitet. Er hat versteckte Konzerte der Protestsänger organisiert usw. Und er hat viel komponiert. Zu dieser Zeit existierte auch in Spanien eine Bewegung für Protestlieder, und wir hatten Kontakt mit Rai- mon und mit dem im Pariser Exil lebenden Paco Ibañez. Mit ihm sind wir dort auch aufgetreten und haben gegen Franco und Sala- zar gesungen.
Während ihres Konzerts heute habe ich das Lied »Moda revolta« (»Aufstand in Mode«) gehört, das sich gegen die aktuelle Regierung richtet. Sie singen also auch heute noch politische Lieder?
Ja klar, denn dieser Premierminister, aber auch der Präsident, sind de facto – auch wenn sie einer sozialistischen Partei angehören – extrem rechts. Sie sagen das zwar nicht, aber sie handeln so. Die Rechte – das ist übrigens eine Strategie der Rechten in ganz Europa – tarnt sich als aufrechte Demokraten. Das sehen wir momentan auch in der Ukraine.
Existiert denn auch Nachwuchs bei den Protestsängern in Portugal?
Ja, den gibt es, kurioserweise sind es die Rapper aus der Peripherie Lissabons, die gegen die Staatsmacht ansingen. Chullage, Sam the Kid, Boss AC uva. haben unglaublich gute Texte, revolutionär, teilweise auch (zu) gewalttätig, aber gegen die Regierung. 1974 ging die Revolution von den Universitäten aus, also von den Eliten, heute kommen die revolutionären Antworten aus den Vorstäd- ten Lissabons. Farbige Jugendliche aus An- gola, Mosambik oder den Kap Verden, Mesti- zen und auch einige Weiße machen sehr gute Texte gegen die herrschenden Verhältnisse. Mit Chullage und Sam the Kid habe ich schon zusammen gearbeitet.
Sie singen viele Lieder aus ihrer Heimatregion, dem Alentejo. Dieser »cante« genannte Stil hat für mich in seiner Grundstruktur schon etwas Revolutionäres, stimmt dieser Eindruck?
Ja, seine ganze Ästhetik enthält etwas Revolutionäres. Das kommt auch daher, dass die Lieder aus dem Alentejo lange Zeit, auch unter dem letzten Regime, nicht gesungen werden durften. Denn viele Lieder richten sich gegen die Kirche. Die Bevölkerung im Alentejo ist traditionell stark antiklerikal ausgerichtet.
Ist davon auch ihr berühmtester Song »Não há terra que resista« (»Es gibt kein Stück Land, das widersteht«) beeinflusst?
Das Lied habe ich 1978 geschrieben, es handelt von der Agrarreform. Daran, dass es im 20. Jahrhundert in Europa noch so etwas wie eine Agrarreform geben musste, erkennt man die damalige Rückständigkeit Portugals. Das hatten zuletzt die Spanier in ihrem Bürgerkrieg in den 1930ern gehabt. Die Reform rief den Widerstand der Kirche hervor, die den Besitz für heilig erklärte. Gewinnen kann man mit einer solchen Reform letztendlich nie ganz, das wäre eine Utopie, aber man muss es versuchen. Ich habe es häufig mit den Bauern auf besetzten Land – gütern gesungen.
Wenn man heute Bilder sieht, hat man den Eindruck einer »fröhlichen« Revolution.
Das ist die Wahrheit, denn es gab nur vier Tote und das Volk war so froh, das Regime, die Geheimpolizei usw. los zu werden, dass es förmlich zu einer Explosion der Freude kam, alle sangen und tanzten in den Straßen.
Was bleibt von dieser Revolution?
Vor allem, dass viele Gesetze eingeführt, geändert bzw. abgeschafft wurden. Es gibt heute ein Scheidungs- und ein Abtreibungsgesetz, das gab es zuvor beides nicht, die Kirche war dagegen. Dann existiert heute die Erfahrung einer 40-jährigen Demokra- tie. Klar, sie ist nicht perfekt, aber sie ist da. Es gibt eine Verfassung, auf die man sich berufen kann. Für die Jugendlichen der 80er-, 90er-Jahre kamen diese Freiheiten gratis ins Haus. Deswegen sind diese Leute erstaunt über die aktuellen Proteste in den Straßen. Sie dachten, die Annehmlichkeiten wären für immer da. Aber die Revolutionäre von damals und die Jugend von heute wissen, dass das nicht so ist. Man muss immer alles hinterfragen. In Griechenland hat es angefangen, und nun geht es überall weiter, das ist nicht mehr zu stoppen. Und fast überall wird dabei auch »Grândola, vila morena« gesungen.
Das Interview lesen Sie in der M&R 3/2014, erhältlich ab dem 25. April 2014 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.
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