Ho Chi Minh hat den Kolonialismus als »Kraken« bezeichnet, »der sich mit einem Fangarm am Proletariat des ›Mutterlandes‹ und mit einem anderen am Proletariat der Kolonien festgesaugt« habe. Hacke man nur einen der Arme ab, so werde der andere »nach wie vor das Blut des Proletariats saugen« und der abgehackte Arm wieder nachwachsen. Genau das ist in Afrika geschehen. Nach einer postkolonialen Ära und der systematischen Beseitigung der Errungenschaften der marxistisch geprägten nationalen Befreiungsbewegungen durch – von den imperialen Mächten installierte – Diktatoren und andere Marionettenregierungen war der Weg frei für neue koloniale Unternehmungen: Vor allem die vom Westen immer häufiger wieder mit kriegerischen Mitteln durchgesetzte Ausplünderung der letzten Ressourcen, die Eroberung von Absatzmärkten, das Wiederaufleben der Sklaverei, das Land-Grabbing bedrohen die Existenz von Mensch und Natur in Afrika.
Aber den Herren der Welt ist es bis heute nicht gelungen, den Widerstand gegen ihre imperialen Raubzüge und gegen den Mythos vom vorkolonialen Afrika als geschichtslosem Kontinent zum Schweigen zu bringen. So werden in diesem Heft Künstler und Publizisten wie Ibrahim Mahama aus Ghana, Joaquín Mbomío Bacheng aus Äquatorialguinea, Anton Kannemeyer aus Südafrika und Chérie Rivers Ndaliko aus Kongo-Kinshasa zu Wort kommen, die mit ihren kritischen Werken nicht zuletzt deutlich machen, dass afrikanische Traditionen und Werte aus einer jahrtausendealten Zivilisation hervorgegangen sind und nicht in anthropologische Kuriositätenkabinette gehören. Eine besondere Ehre für M&R: Der nigerianische Dichter, Umweltaktivist und Träger des Alternativen Nobelpreises Nnimmo Bassey stellt afrikanische Literaten vor (darunter Ken Saro-Wiwa, den die von der Ölindustrie korrumpierte Militärregierung wegen seiner Proteste gegen den Ökozid im Gebiet der Ogoni 1995 hinrichten ließ), die gegen die »Herrschaft des Kapitals über das Leben« gekämpft haben – und weiter kämpfen.
In vielen dieser Reflexionen über Afrika scheint eine metapolitische Idee auf, die der afrokaribisch-französische Schriftsteller Aimé Césaire (1913–2008) auf den Begriff »Négritude« brachte und an der sich auch der Autor von »Die Verdammten dieser Erde«, Frantz Fanon, beim Aufspüren des »schwarzen Subjekts« orientierte. Césaire skizziert in seinen surrealistischen Gedichten aus der Negativität des hässlichen Vokabulars des Rassismus einen emanzipativen Gegenentwurf: »Und es steht auf, das Negerpack«, heißt es in seinen »Notizen von einer Heimkehr«, in denen er sich auf seine afrikanischen Wurzeln besinnt. »Und lass mir die Tänze / Meine Niggertänze / Mein seien die Tänze / Der Tanz der das Halseisen bricht / Der Tanz der den Kerker sprengt / Der Tanz Esist-schön-und-gut-und-recht-ein-Neger-zu-sein.« Diese Verarbeitung der afrikanischen Erfahrung von Massenmord, Ausbeutung und Verschleppung zielt auf weit mehr als auf die Erlangung eines »schwarzen Selbstbewusstseins« – es geht um ein radikales, universalistisches Verständnis von Humanismus und Befreiung.
Und das, liebe Leser, brauchen wir dringend in diesen finsteren Zeiten. Nicht nur, um die neokoloniale Despotie als Verbrechen zu entlarven …
Susann Witt-Stahl
Chefredakteurin M&R