Melodie & Rhythmus

Die Träumer von Tel Aviv

02.01.2013 14:25

The Angelcy

Viele wollen nur noch weg: Die israelische Band The Angelcy gilt als Hoffnungsträgerin einer desillusionierten Jugend
Text: Christoph Schrag, Hendrik Schröder, Fotos: Silvia Pinna, Christoph Schrag, Rotem Bar Or

»We are a natural desaster«, singt die israelische Gruppe The Angelcy, und hunderte Fans in Tel Aviv singen mit. Die Folk-Band zweifelt an allem, was die herrschende Politik Israels ausmacht. Damit sind sie weit weniger vorsichtig, als die meisten ihrer Kollegen. Trotzdem oder deswegen gelten die sechs in Israel als das nächste große Ding.

Tel Aviv im November. Es ist sehr warm in der Stadt. Die einzige Wolke ist aus Watte und hängt drinnen über der Bühne des etablierten Barby-Club am südlichen Rand der City. Wie aus einem Traum wirkt sie. Wie aus dem Traum, den The Angelcy auf der Bühne gerade erleben. Zwischen der fantasievollen Staffage geben sie mit Trommeln, Kontrabass, Klarinette, Keyboard und Gitarre ihr bislang größtes Konzert. 600 Fans drängen sich vor ihnen. Junge Frauen in Tanktops und kurzen Röcken jubeln dort neben coolen mittzwanziger Hipstern – etwas weiter hinten an der Bar stehen die älteren –, Gruppen, Paare, Familien sogar. Die Stimmung ist ausgelassen, aber konzentriert. Das Publikum hört zu und lässt sich nicht nur unterhalten.

»Wir sind eine Naturkatastrophe« und »Wenn wir alle unser kleines Ego überwinden, dann können wir es schaffen«, das sind Zeilen aus The Angelcys Texten, die hier in Israel auch politisch zu verstehen sind. Bislang singen ihre Fans auf den Konzerten lauthals mit. Aber die Band rechne schon damit, dass aus dem Publikum Buh-Rufe kommen, aber sie kämen nicht, sagt Rotem Bar Or, Sänger und Texter der Band. Ein sanfter Typ mit Jeans und T-Shirt, der Mittelpunkt der sechsköpfigen Gruppe aus vier Männern und zwei Frauen, die ihren ebenfalls sehr sanften Sound mit viel Kontrabass und Percussion und ohne Schlagzeug spielen. Und damit sehr erfolgreich sind.

Selbst auf Galai Zahal, dem meistgehörten Radiosender Israels, laufen ihre Songs rauf und runter. Er wird – ironischerweise – von der Armee betrieben. In Israel muss jeder zur Truppe, wenn er jung ist. Alle Männer, alle Frauen. Ausnahmen gibt es nur für extrem religiöse Menschen, sonst kaum. In so einem Land nicht vom Krieg zu singen, sei da schlicht Realitätsverleugnung, sagt Rotem. Aber er ist sich auch des Konflikts bewusst, auf den er und die Band da zusteuern. »Es gibt Zeilen, die uns noch Ärger machen werden. Wir singen: ›Niemandes Soldaten im Niemandsland‹. In einem patriotischen Staat wie Israel wird das früher oder später Schwierigkeiten geben.«

Nach dem Konzert, beim Interview im gemütlich vernachlässigten Hinterhof eines Freundes der Band, wirkt Rotem genauso bedacht und nachdenklich wie auf der Bühne. Einer, der nicht Belangloses daherredet. Bei ihm geht es immer ums Ganze. In der Musik, in seinen Texten. »Einige Leute aus unserem Freundeskreis haben Menschen getötet, saßen im Panzer, haben den Knopf gedrückt und Menschen bombardiert. Das ist Realität. Es ist Realität, dass ich ein Mädchen wollte, aber sie wollte mich nicht. Und es ist Realität, dass hier Menschen töten und sterben. Das ist Routine, das ist unser Leben.« So klingt jemand, der es sich nicht leicht macht mit seiner Rolle.

Die Politik ihres Landes verstehen auch viele junge Menschen in Tel Aviv nicht mehr, und The Angelcy haben mit ihrer poetischen, leisen Skepsis einen Nerv getroffen. Wann immer man hier mit jungen, politisierten Menschen in Kontakt kommt – und politisch denkend sind fast alle hier –, spürt man die Frustration, spürt man, wie müde die junge Generation von der Kriegsrethorik ist und wie wütend über die großen sozialen und ökonomischen Probleme, die im Zuge des andauernden Konflikts mit den Palästinensern ständig vernachlässigt werden.

Der einzige Ausweg für viele: fortgehen. Und zwar länger als die kurze Auszeit in Indien, die sich viele junge Israelis nach dem Militärdienst gönnen. Auch Ma’ayan Zimry, die Percussionistin von The Angelcy träumt davon: »Ich würde gerne mal woanders leben, weil ich finde, dass dieses Land viele Probleme hat, die mein Leben beeinflussen, für die ich aber nichts kann. Ich habe nichts Schlimmes getan und finde, dass ich in einem Land leben sollte, in dem ich glücklich sein kann.« Mit einer gewissen Sehnsucht denken sie und ihre Bandkollegen an das Tel Aviv vom Sommer 2011 zurück, als der Rothschild Boulevard noch vor der internationalen Occupy-Bewegung erst von einer einzigen Studentin besetzt wurde. Ab dann zog er zwei Monate lang hunderttausende junge Menschen an, die für ein anderes Israel demonstrierten.

Auch Percussionist Dov Rosen war dabei: »Was immer es war, das damals passiert ist, die Leute hier in Tel Aviv haben angefangen, miteinander zu reden. Politik war wieder ein Thema für alle.« Und Rotem erinnert sich an Musik auf den Straßen, und an Ideen für eine neue Gesellschaft. »Es lag etwas in der Luft Und ich glaube, es ist nicht komplett weg. Es hat sich nur versteckt.« Wie die meisten anderen Occupy-Camps in anderen Ländern, wurde auch der Rothschild Boulevard irgendwann schließlich geräumt.

Am Tag nach dem großen Konzert im Barbys stehen die sechs Musiker von The Angelcy auf einer Dachterrasse der Sheinkin Street in der Innenstadt und werden für die erste Ausgabe des Tel Aviver Ablegers von Balcony TV gefilmt – einem internationalen WebTV Podcast. Für den sonnig warmen Tag im November haben sie sich einen anderen Song ausgesucht, »Dreamer«. Hier fällt kein Wort zu Armee oder Politik. Aber selbst diesen Track durchdringt die Sehnsucht nach Veränderung.

»O dreamer, dreamer fold your wings, the rain is coming/Illusion feeds your lucid dreams, the rain is coming«

Die Flügel einklappen, der Regen naht – er habe immer noch Hoffnung, sagt Rotem. »Es ist eine Frage des richtigen Moments.« Demnächst soll gewählt werden in Israel. Vielleicht haben die Kämpfe um Gaza die Proteste und ihre Träume von einem anderen Israel wieder verdrängt. Aber vielleicht keimt der Protest an den Urnen wieder auf. »Manchmal bringen die größten Schwierigkeiten die schönsten Dinge hervor«, sagt Rotem. Ein Träumer, das ist er tatsächlich. Aber einer, der dabei die Realität nicht aus den Augen verliert. Er will nicht aus Tel Aviv weg. Er will etwas verändern, seine Musik soll etwas verändern. Und zwar hier, in Israel. Dass er dabei nebenbei zum Popstar werden könnte, nimmt er gerne in Kauf.

Den Artikel erschien Sie in der Melodie&Rhythmus 1/2013, erhältlich ab dem 4. Januar 2013 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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