Zehn Jahre Fukushima

Foto: Seiha Yamaguchi
Das Künstlerkollektiv Chim-Pom bricht das Schweigen über den Super-GAU und skandalisiert das Versagen der Medien
Vor zehn Jahren verfolgte die Welt voller Entsetzen die nukleare Katastrophe im Atomkraftwerk Fukushima. Damals mussten infolge der Kernschmelze in drei Reaktoren rund 160.000 Anwohner fliehen. Die lebensgefährliche Strahlung hielt das Künstlerkollektiv Chim-Pom dennoch nicht davon ab, bereits einen Monat später ein Video mit dem Titel »Real Times«, dem Namen einer fiktiven Zeitung, in der Nähe des AKWs zu drehen. Darin verwandeln die Künstler die rote Sonne auf der japanischen Nationalfahne in ein Radioaktivitätswarnzeichen. Mit ihrem Werk wollten sie all jene Medien kritisieren, die davor zurückscheuten, über die Zustände in Fukushima wahrheitsgemäß zu berichten.
»Die konservativen Politiker kontrollieren die Bürokratie und die Medien«, erklärt das Kollektiv gegenüber M&R. Und da sich daran bis heute nichts geändert habe, will es seine Proteste weiterführen. Die anhaltenden hohen Strahlungsbelastungen würden systematisch heruntergespielt, so Chim-Pom weiter. Um zu suggerieren, dass Japan sich von dem Super-GAU erholt hätte, erwog die Regierung sogar kurzfristig, die geplante Olympiade unter dem Motto »Recovery Olympics« laufen zu lassen. Zu Beginn der Coronapandemie schwenkte man aber auf den Namen »Die Olympiade, die Covid-19 besiegte« um. »Das Problem ist, dass Tragödien politisch instrumentalisiert werden«, berichtet Chim-Pom.
Das Künstlerkollektiv weiß aus Erfahrung, dass kritische Interventionen unerwünscht sind. Vor dem internationalen Kunstfestival Aichi-Triennale 2019 sahen sie sich mit anonymen Drohungen konfrontiert, während das japanische Kulturministerium die benötigten Fördergelder zurückhielt. Die Eröff- nung konnte erst unter strengen Auflagen stattfinden. ChimPom kuratieren mittlerweile eigene Ausstellungen, um solchen Widrigkeiten zu begegnen. »Die Verantwortung liegt nicht nur bei den Organisatoren, die sich gezwungen sehen, Änderungen an Werken einzufordern, sondern auch bei den Künstlern, die diese Restriktionen akzeptieren.« Nachdem in der Sperrzone von Fukushima bereits 2015 ihre Ausstellung »Don’t Follow the Wind« zusammen mit den dortigen Gebäuden abgerissen worden war, überlegen sie nun, am selben Ort eine neue Installation zu platzieren.
Carla Sundermeier
[↗] chimpom.jp
Der Beitrag erscheint in der Melodie & Rhythmus 2/2021, erhältlich ab dem 19. März 2021 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.
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