Melodie & Rhythmus

Panik auf dem Luxusdeck

11.12.2018 14:01

Ein Requiem für Che Guevara

Hans Werner Henze dirigiert eine Probe von »Das Floß der Medusa« in der Halle B in Planten un Blomen Foto: NDR / Hans-Ernst Müller

Hans Werner Henze dirigiert eine Probe von »Das Floß der Medusa« in der Halle B in Planten un Blomen
Foto: NDR / Hans-Ernst Müller

Vor 50 Jahren provozierte Hans Werner Henze mit einem Revolutions-Oratorium. »Das Floß der Medusa« wurde von der bürgerlichen Presse torpediert − bis es schließlich unterging

Susann Witt-Stahl

Von Spott und Hohn bis zur wutschnaubenden Raserei − es gab kaum eine Schmähpraxis, die nicht im bürgerlichen Feuilleton gegen Hans Werner Henze ihren Ausdruck fand. Schon vor der Uraufführung von »Das Floß der Medusa«, die für den 9. Dezember 1968 angesetzt war. Ein »Kannibalendrama« habe der Komponist geschrieben, ätzte ein Spiegel-Rezensent und konnte sich vor allem über eine Tatsache nicht beruhigen: Der »alte Ästhet« hatte es gewagt, sein Tonkunstwerk nicht in Form eines krachenden, verstörenden Avantgarde-Experiments zu kreieren, sondern als mit »pastoraler Schönheit« aufgeladenes (sein Chorsatz war an den Passionen von Johann Sebastian Bach orientiert) und damit auch ergreifendes Klangerlebnis.

In dem Dokumentar-Oratorium für Sopran, Bariton, Sprechstimme, gemischten Chor, neun Knaben und Orchester wird die Geschichte des Untergangs der französischen Fregatte Medusa vor der Küste Senegals im Jahre 1816 erzählt. Der Kapitän, Offiziere, hohe Beamte und andere Privilegierte der insgesamt 300-köpfigen Besatzung brachten sich auf Booten in Sicherheit und überließen 149 Mitglieder der Mannschaft, einfache Soldaten und Zivilisten, auf einem provisorisch zusammengezimmerten Floß einem schrecklichen Schicksal: Verdursten, Verhungern und Siechtum in der sengenden Hitze.

Die Schlussszene ist eine Vertonung von Théodore Géricaults berühmten Gemälde »Le radeau de la Méduse« von 1819, das den Augenblick der nahenden Rettung durch die Brigg Argus zeigt. Nicht zuletzt das Pathos des letzten Aufbäumens der nur noch 15 Überlebende zählenden Schiffbrüchigen, von denen sich fünf bereits in Agonie befanden und später noch sterben sollten, war für Henze »inspiratorischer Ausgangspunkt des Stils und der Farbe der Partitur« seines Werkes.

Das Libretto, das der Schriftsteller Ernst Schnabel geschrieben hat, stützt sich auf das Tagebuch eines überlebenden Wundarztes und eines Landvermessers, das nach ihrer Rückkehr in Paris veröffentlicht worden war und sogleich der Zensur durch die gerade wieder an die Macht gelangte bourbonische Reaktion anheimfiel, dennoch durch Übersetzungen beispielsweise in Deutschland Verbreitung fand − und den gesellschaftlichen Klimawandel, der sich in den folgenden Jahren zum Vormärz steigerte, mit beschleunigen sollte.

Als Henze und Schnabel ihr Werk Anfang Oktober 1967 nach zweijähriger intensiver Arbeit zum Abschluss gebracht hatten, erfuhren sie vom Tod eines Guerillero in Bolivien, »umgebracht von einem Herrschaftssystem, dem eine Welt mit Gewissen die Fähigkeit der Verantwortung nicht zusprechen darf«, wie Schnabel 1969 notierte. Sie sahen eine »zufällige Entsprechung« zwischen dem Mulatten Jean­Charles, dem »Anführer der Verlorenen«, einer Hauptfigur des Oratoriums, der auf Géricaults Bild mit einem roten Stofffetzen die Retter herbeiwinkt, bevor er stirbt, und dem »Anführer der Verlorenen im bolivianischen Busch« und widmeten »Das Floß der Medusa« Ernesto Che Guevara.

Auch die Bezeichnung »vulgare e militare« (gewöhnlich und wehrhaft) im Untertitel verweist auf Henzes Intention, eine Allegorie für antiimperialistische Bewegungen in den Armenhäusern dieser Welt zu erschaffen: »Es wird darin vom heldenhaften Kampf gegen den Tod gesungen, gegen die Verführungen des Aufgebens, gegen das bequeme Sichhingeben an die Verzweiflung. Namen von Freiheitskämpfern aus der Dritten Welt wurden in den Text aufgenommen.«

Inszenierung und Dramaturgie verstärken die Revolutionsemphase: Einem Chor der Lebenden, begleitet von Blasinstrumenten, mit der Figur des Jean­-Charles (Bariton) auf der linken Seite der Bühne wird auf der rechten ein Chor der Toten gegenübergestellt, begleitet von Streichinstrumenten, mit La Mort (Sopran), dem Tod, als Protagonisten. In der Mitte auf der Vorbühne findet sich vor Perkussionsinstrumenten Charon, in der griechischen Mythologie der Fährmann, der die Toten über den Styx in das Reich des Hades bringt, im Oratorium der Sprecher, zuständig für den »Transfer zwischen dem ›Floß der Lebenden‹ und der Zuflucht derer, die, wie Zikaden, nichts als Stimme sind«, wie Schnabel jenen seine Rolle selbst erklären lässt. Der während des Stücks stetig wachsende Toten­Chor singt montierte Auszüge aus Dantes »Commedia« in Italienisch, der sich stetig verkleinernde der Lebenden von Schnabel nach den Aufzeichnungen der Passagiere frei gedichtete Verse in Deutsch und Englisch, angereichert mit einigen übersetzten Dante­Zeilen.

Für die Uraufführung mit Henzes Wunschbesetzung, Dietrich Fischer­Dieskau als Jean­Charles, Edda Moser als La Mort und dem Schauspieler Charles Regnier als Charon, in der Halle B des Planten­un­Blomen­Parks in Hamburg hatten sozialistische Musikstudenten Proteste angekündigt − die sich ausdrücklich nicht gegen den Komponisten und den Librettisten richteten sollten, sondern gegen das »Publikum in Smoking und Nerz« (auf einem Flugblatt der SDS­Projektgruppe »Kultur und Revolution« und des AStA der Hochschule für Musik Berlin mit dem Titel »In Sachen Henze« wurde gefordert, das Konzert stattdessen vor Arbeitern aufzuführen), dessen Versuch, das »Floß der Medusa« für die »Festigung des herrschenden Systems« zu okkupieren und das »organisierte Kesseltreiben« der bürgerlichen Presse gegen Henze und Schnabel.

Tatsächlich kam es zu Tumulten. »Das Erste, was ich über dreizehn Reihen Köpfe des vor mir platzierten Publikums sah, war ein Bild Che Guevaras und eine Faust, die hineinschlug und es zerriss«, erinnerte Schnabel empört die Reaktion des Programmdirektors des NDR, der die Komposition (allerdings mit ganz anderen Erwartungen) in Auftrag gegeben hatte und die Aufführung live im Radio übertragen wollte. Nicht nur ein Che­Poster, auch eine schwarze, noch mehr eine rote Fahne sowie ein Plakat mit der Aufschrift »Enteignet die Kulturindustrie!«, die linke Studenten am Dirigentenpult angebracht hatten, erhitzten die Gemüter. Während Henze bereits den Taktstock hob, weigerte sich der beteiligte RIAS­Chor, unter dem Symbol des Kommunismus zu konzertieren, der Komponist wiederum weigerte sich, es zu entfernen − begleitet von Beifalls­ wie Buhrufen aus dem Publikum. Als eine Hundertschaft Bereitschaftspolizei in voller Kampfmontur zum Einsatz kam, eskalierte die Situation. Es gab ein Handgemenge, Verletzte und Festnahmen. Ernst Schnabel wurde von zwei Beamten durch eine Glastür gestoßen und wegen »Widerstands gegen die Staatsgewalt« abgeführt.

Es folgte eine Welle der Solidarität mit Henze und Schnabel durch internationale Künstler und Intellektuelle, darunter der Regisseur Luchino Visconti, die vor allem die Hatz der »Bürokraten und Manipulateure« gegen das Duo scharf kritisierten. Karlheinz Stockhausen fand sie »ekelhaft«, Peter Weiss erkannte in ihr »Henkers­Arbeit«. In der Tat schienen nicht wenige der mehr als hundert Rezensionen des Werkes und Berichte über seine geplatzte Uraufführung, die erst im Januar 1971 konzertant nachgeholt wurde, mit der Absicht verfasst gewesen zu sein, an Schnabel, vor allem aber an Henze, der sich in den kommenden Jahren einem institutionellen Boykott ausgesetzt sehen sollte, ein Exempel zu statuieren.

Warum? Der revolutionäre Impetus des Werkes provozierte. Seine letzten 36 Takte werden von dem ostinaten Rhythmus des »Ho­Ho­Ho Chi Minh!«­APO­Schlachtrufs einer Pauke getragen. Darüber spricht Charon in anschwellender Rage eine Kriegserklärung an die »Federhüte« und »Epauletten«: »Die Überlebenden aber kehrten in die Welt zurück: belehrt von Wirklichkeit, fiebernd sie umzustürzen.« Dass Henze auch eine Aufführung in der DDR realisieren wollte − was einen NDR­Journalisten sogleich zu der Unterstellung veranlasste, das Oratorium solle dort als »Element politischer Propaganda« benutzt werden −, tat ein Übriges.

Kaum anders als Géricaults Bild, das im 19. Jahrhundert »ein gefährlicher Angriff auf die etablierte Gesellschaft gewesen war«, wie Weiss es in »Die Ästhetik des Widerstands« charakterisierte, löste 150 Jahre später die musikalische Verarbeitung von Henze unter den nicht wenigen Reichen, die sich in den bewegten 68er­Jahren auf dem Luxusdeck der Titanic wähnten, eine gewisse Panik aus. Gerade weil der Komponist auf höchstem kunstmusikalischen Niveau das »Bild der Schönheit aufgerichtet« hatte, »um es dem Grauen entgegenzuhalten«, wie der Musikkritiker Klaus Geitel feststellte, und ein Klanggemälde mit einem erschütternden Realismus hervorgebracht hatte, der die Racket­Natur der ökonomischen Eliten schonungslos freilegt, und es zu all ihrem Übel auch noch dem bis heute als Märtyrer verehrten Hoffnungsträger des Weltproletariats gewidmet hatte, musste sein Schaffen von ihnen unweigerlich als das empfunden werden, was es objektiv war: »Verrat an ihrer Klasse«, wie es auf dem »In Sachen Henze«­Flugblatt der linken Studenten hieß. Denn der vom Establishment lange Zeit als Genie gefeierte Tonkünstler hatte auf dem »Floß der Medusa« niemand Geringeres befördert und gerettet als das revolutionäre Kollektivsubjekt, das sie so sehr fürchten und bis heute (derzeit auf dem Mittelmeer) lieber zugrunde gehen lassen, bevor es durch die am eigenen Leibe erfahrene Unmenschlichkeit und Alltagsbarbarei des Kapitalismus erwachen kann.

Der Beitrag erscheint in der Melodie & Rhythmus 1/2019, erhältlich ab dem 14. Dezember 2018 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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