Melodie & Rhythmus

Auf der Seite der »Angeschissenen«

25.10.2016 15:19
Foto: Roger Sargent

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Sleaford-Mods-Sänger Jason Williamson unterstützt den Sozialisten Jeremy Corbyn und legt sich mit dem rechten Flügel der Labour-Partei an

Interview: Matt Zurowski

In der britischen Labour-Partei findet eine groß angelegte Säuberungswelle statt. Man will sich der Gefolgschaft des linken Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn entledigen. Dabei kommt der aus dem deutschen Polit-Diskurs sattsam bekannte Vorwurf des »linken Antisemitismus« erstmals großflächig zum Einsatz. Neuerdings ist aber auch schon jeglicher rüde Umgangston im Internet Vorwand genug, kapitalismuskritische Linke auszuschalten – darunter auch Jason Williamson von den Sleaford Mods. Kurz vor Corbyns geglückter Wiederwahl wurde seine Mitgliedschaft ausgesetzt. M&R traf den Frontmann des Elektro-Punk-Duos in London.

Warum wurden Sie von der Labour-Partei suspendiert?

Ich habe getwittert, dass der Labour-Parlamentsabgeordnete Dan Jarvis ein »Poser-Arschloch« ist. Das war vergangenen März, und seitdem habe ich diverse Politiker aus dem rechten Parteiflügel in etlichen Tweets beleidigt. Das war den Hexenjägern offenbar nicht aufgefallen – bis neulich: Nun war der erste Tweet Anlass genug, dass ich, wie Tausende andere, nicht auf dem Parteitag an der Wahl des Vorsitzenden teilnehmen durfte.

Was war Ihr Anlass für den entscheidenden Tweet?

Jarvis hatte in einem Artikel seine »Vision« für Großbritannien vorgestellt: eine ganze Menge nichtssagenden Müll, »gegen Ungleichheit vorgehen« und so. Ich bin noch nicht mal sicher, ob der Mann ein Vollblut-Blairist ist, aber in jedem Fall eine New-Labour-Type.

Sind Sie schon lange Labour-Mitglied?

Nein. Wie die meisten Leute bin auch ich erst letztes Jahr wegen Jeremy Corbyn in die Partei eingetreten. Eigentlich interessiert mich die Labour-Partei gar nicht, aber wir brauchen jemanden, der ganz schnell etwas gegen die katastrophalen Sozialkürzungen unternimmt. Um Menschen mit niedrigen Einkommen, alleinerziehende Mütter und Behinderte ist es schlecht bestellt, und die Schlangen vor den Suppenküchen werden überall länger. Das kann nicht angehen.

Was versprechen Sie sich von Corbyn?

Wir werden sehen. Mehr Mitgefühl vielleicht. Natürlich hat Corbyn in seiner Partei viele Feinde, und die Medien sind gegen ihn. Ich erhoffe mir also keine Wunder, aber zumindest ist es erfrischend, jemanden zu hören, der die Wahrheit sagt.

Freuen Sie sich über seine Wiederwahl?

Ehrlich gesagt habe ich ein wenig das Interesse verloren, nachdem ich kaltgestellt wurde: Scheiß doch auf diese Leute! Trotzdem werde ich bei den nächsten Wahlen für Corbyn stimmen, und ich glaube auch, dass er bis dahin durchhält.

Seit Jahren versuchen Linke sogenannte »sichere Orte« zu schaffen, die frei von jeglicher Diskriminierung und Kränkung sein sollen. Jetzt wendet die Labour-Rechte dieses Prinzip genüsslich gegen Linke an. Haben wir ihr die Waffen selbst geliefert?

Das trifft sicherlich zu einem gewissen Grad zu, aber was rechts und links unterscheidet, sind die Inhalte. Ich meine auch, dass man es mit der Political Correctness übertreiben kann, aber die Konservativen haben ganz andere Beweggründe für ihre Redeverbote.

Sollte es denn überhaupt Redeverbote geben?

Na ja, wenn jemand etwa »die Vorzüge des Nationalsozialismus« anpreist, dann würde ich so jemandem nicht zuhören wollen. Wenn der Inhalt einer Rede dumm und verhetzend ist, dann würde ich sagen, dass man sie unterbinden sollte.

Kommen wir zu Ihrer neuen EP. Wovon handelt der Titelsong »TCR«?

»TCR« handelt von den begrenzten Möglichkeiten, die uns die westliche Gesellschaft zur Verfügung stellt. Oft denken wir, dass es besser ist, in einen Club oder Pub zu gehen, als zu Hause zu bleiben. Doch dann stellen wir fest, dass es überhaupt keinen Unterschied macht. »TCR« handelt von diesem ewigen Kreislauf der begrenzten Möglichkeiten. Mag sein, dass der Song ein bisschen zynisch ist.

Was bedeutet Ihnen musikalische Weiterentwicklung?

Ich finde es wichtig, Musik voranzubringen, damit sie lebendig bleibt. Momentan gibt es in England nicht allzu viele Künstler, die das tun. Die meisten produzieren gefällige Musik, die den großen Plattenlabels passt. Ich finde, man sollte die Art von Musik spielen, die einem wirklich gefällt, aber auch versuchen, sie zeitgemäß zu gestalten. Sprich sie sollte etwas über die heutige Zeit aussagen.

Wie sieht denn der typische Sleaford-Mods-Fan aus?

Zu unseren Gigs kommen die verschiedensten Leute zwischen 18 und 65. Punks, Mods, Hipster und ganz normale Musikfans. Wie Sie in der Dokumentation »Invisible Britain« sehen können, versuchen wir auch, an Orten zu spielen, wo normalerweise kaum Bands Station machen – im vergessenen, von Austeritätspolitik zerstörten Hinterland. Mit diesem Ansatz haben wir gute Erfahrungen gemacht: Die Gigs sind ausverkauft, und die Leute wissen deinen Einsatz zu schätzen. Viele kommen einfach nur aus Neugierde. Dabei handelt es sich nicht nur um Leute aus der Arbeiterklasse. Mittelschichtskinder sind auch dabei, aber eben die ärmeren, die es sich nicht leisten können, kurz mal in die Großstadt zu düsen und sich für 18 Pfund Eintritt eine Band anzuschauen.

In »Invisible Britain« stehen aber Arbeiterklasse und Arbeiteridentität explizit im Vordergrund. Trauen Sie Leuten aus der Mittelschicht?

Ich bin jetzt selber Mittelschicht. In den letzten zwei Jahren ist mein Einkommen derart angestiegen, dass man mich dieser Klasse zurechnen muss. Ursprünglich stamme ich aus der traditionellen Arbeiterklasse, und meine Herkunft ist freilich immer noch in meinem Charakter verankert. Im Gegensatz zu vielen anderen lasse ich das aber nicht groß raushängen. Es spielt einfach keine entscheidende Rolle für mich. In den letzten Jahren habe ich gelernt, Menschen zu akzeptieren wie sie sind – egal welchen Background sie haben. Es sei denn, sie sind wirklich blöde und mit Vorurteilen beladen.

Im Laufe der Brexit-Debatte bekam man oft zu hören, dass es sich um eine Protestwahl der »vergessenen Arbeiterklasse« handele. Anderswo hieß es, dass die Brexit-Wähler alles Rassisten seien. Wie stehen Sie zu diesen Behauptungen?

Schwierige Frage. Offenbar war unter den Wählern, die für den Brexit gestimmt haben, der Anteil der Arbeiter recht hoch. Ich bin mir nicht sicher, ob die Leute es dem Establishment einfach mal zeigen wollten oder ob es mit der patriotischen Propagandakampagne in der rechten Presse zusammenhing.

Viele Wähler sehen das Ergebnis als Chance für einen Neubeginn.

»Little England« soll ein Neubeginn sein – von was denn? [lacht] Ich bin kein Experte, aber wer sich einbildet, dass Brexit dem einfachen Volk nützt, wird, glaube ich, bitterböse enttäuscht werden. Ich wäre viel lieber mit meinen europäischen Brüdern und Schwestern verbunden geblieben. Nicht wegen den EU-Institutionen, sondern einfach, um mich den Menschen in Europa näher zu fühlen. Zudem wollte ich auf keinen Fall Boris Johnson und Nigel Farage helfen, die sich im Übrigen einfach verpisst haben, als das Wahlergebnis feststand. Sie wissen nicht so recht, was sie damit anstellen sollen. Das sagt doch schon alles. Letztendlich ist das aber egal – ob mit oder ohne Europa: Die einfachen Menschen werden die Angeschissenen bleiben.

Sleaford Mods TCR
Rough Trade Records

Das Interview lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 6/2016, erhältlich ab dem 28. Oktober 2016 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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