Melodie & Rhythmus

»Der Soldate ist der schönste Mann bei uns im Staate«

23.06.2014 14:49

Erster Weltkrieg
Foto: DPA

Vor hundert Jahren: Populärkulturelle Mobilmachung im Ersten Weltkrieg
Matthias Rude

»Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt«, heißt es in einem Aufruf an die Kulturwelt, der von 93 Wissenschaftlern, Künstlern und Schriftstellern unterzeichnet und im Oktober 1914 in allen großen Zeitungen veröffentlicht worden war. Das Bewusstsein, dass Heer und Volk »eins« seien, verbrüdere die Deutschen »ohne Unterschied der Bildung, des Standes und der Partei«. Bei dem Aufruf, der auch als »Manifest der 93« bekannt ist, handelt es sich um ein Stück Propaganda aus den Monaten, die noch heute mit kriegsbegeisterten Massen assoziiert werden. Ein trügerisches Bild, das die Welle von Friedensdemonstrationen ausblendet, die Deutschland in den Wochen vor Kriegsbeginn erfasste. Was den alle Bereiche der Gesellschaft durchdringenden Militarismus angeht, gibt das Dokument aber durchaus ein Stück Realität wider. Woher »die ungeheure Zahl der Selbstmörder« in der Armee komme, fragte August Bebel 1890 in einer Reichstagsrede – und verwies als Antwort auf Zeitungsberichte über Misshandlungen junger Soldaten von »haarsträubender Natur«. Drill bestimmte die Jugend im wilhelminischen Zeitalter, die Militärkarriere galt als zu erstrebendes Ideal. Man kann sogar von einem ersten Starkult sprechen – jenen um den »feschen« jungen Mann in Uniform. Die kommerzielle Musik, die diesen Kult transportierte, war vom Militarismus nicht zu trennen.

General Bum-Bum
An seiner Etablierung hatte etwa der Komponist Richard Eilenberg mitgewirkt – mit Titeln wie »Immer fesch!« (1886) und »Schneidig!« (1897). Von der etablierten Fachpresse meist als seicht und trivial kritisiert, waren seine Stücke beim »kleinen Mann« umso beliebter – Eilenberg war zu seiner Zeit einer der populärsten Musikschaffenden. Bei gut 15 Prozent seiner Kompositionen handelte es sich um Märsche mit entsprechenden Titeln wie etwa »Jetzt kommt das Militär!«. Die Verherrlichung der Kriegsflotte, dem Prestigeobjekt des Kaiserreichs, im Rahmen einer Flottenparade durfte natürlich nicht fehlen. Und wer sich nach einem »Platz an der Sonne« sehnte, für den hatte Eilenberg »Nigger-Launen (Caprice de nègras)« im Angebot, einen »Two Step für Pianoforte «. Schon für die Kleinsten hieß es: »General Bum-Bum!« und »Wir spielen Soldat!« Entsprechend meldeten sich die Jugendlichen, ohne die geringste Vorstellung zu haben, was auf sie zukommen würde, reihenweise freiwillig zum Kriegsdienst. »Die Bevölkerung reagierte in der Öffentlichkeit genauso, wie es ihr über Jahrzehnte anerzogen worden war«, kommentiert der Musikwissenschaftler Dietrich Helms den berüchtigten »Geist von 1914«.

Was die Musikindustrie angeht, so bildete sich bereits bei Kriegsbeginn im August ein stetiger Strom von Produktionen, die den Krieg begrüßten. Kritische Töne fanden sich zunächst keine. Wurde die Musikproduktion also gelenkt? Sofort nach Kriegsausbruch jedenfalls verboten die Militärbehörden alle Versammlungen und Kundgebungen gegen den Krieg. Durch die Zensur wurde besonders die linke Presse mundtot gemacht. Die bürgerlichen Musikmedien schlugen sich eindeutig auf die Seite des Militärs, indem sie beispielsweise die Musik des »feindlichen Auslandes« diffamierte. »Das deutsche Musikleben und seine Entlausung«, hieß etwa eine Artikelserie in der Neuen Zeitschrift für Musik, die in den Jahren 1915 und 1916 erschien. Das musikalische Feindbild, das die Nazis später propagierten, ging also nicht erst auf die Diskussion um »Musikbolschewismus« während der 1920er-Jahre zurück, sondern hat im Ersten Weltkrieg seine Wurzeln.

Die bürgerliche Kultur übte sich in Selbstzensur. Versuche einer systematischen staatlichen Einflussnahme auf die Musikindustrie sind nicht bekannt. Angesichts der zur Verfügung stehenden Mittel sowie der Größe des Unterhaltungssektors wäre das auch kaum möglich gewesen. Direkten Einfluss auf den Musikmarkt nahm die Reichsregierung erst 1917 mit der Beschlagnahmung der sich mehrheitlich in britischem Besitz befindlichen Deutschen Grammophon AG, die der deutschen Polyphon- Musikwerke AG übertragen wurde. In Deutschland sollte die Marke von einer Million produzierten Schallplatten zwar erst 1919 überschritten werden, dennoch gab es im Jahr vor Kriegsbeginn schon fast 500 Firmen, die hauptsächlich Musik verlegten. Mit 354 Plattenfirmen war Berlin auch in musikalischer Hinsicht Reichshauptstadt. Die junge Industrie versuchte, vom neuen Markt zu profitieren und gab eilig Tonträger mit patriotischen Liedern heraus – oder erstellte, wie die Beka Record AG, ein »Spezialverzeichnis patriotischer Platten und Soldatenlieder« mit »sensationellen Kriegs-Neuaufnahmen«. Der Weltkrieg versprach nicht nur für die Rüstungs-, sondern auch für die Musikindustrie ein lohnendes Geschäft zu werden. Eine zentral gesteuerte Propaganda war in diesem Bereich also gar nicht notwendig, die Musikverlage machten freiwillig Stimmung für das große Gemetzel – allein schon aus marktwirtschaftlichen Erwägungen.

Immer feste druff!
Schnell mit dabei war auch das Showbusiness. Im Herbst 1914 tauchten überall Operetten und Revuen mit stark patriotischem Charakter auf, die zum großen Teil gleich wieder verschwanden, als angesichts der sich hinziehenden Stellungskämpfe Kriegsbegeisterung nicht mehr en vogue war, also schon zu Beginn des Jahres 1915. Die Stücke, die jetzt erfolgreich wurden, blendeten den Krieg aus. Der schon 1912 veröffentlichte Schlager »Puppchen, du bist mein Augenstern« von Jean Gilbert wurde zum Top-Hit des Krieges. Gilbert hatte sich am Berliner Apollo- Theater einen Namen gemacht, wo er Stücke von Paul Lincke dirigierte. Dessen Uraufführung von »Frau Luna« 1899 gilt als Geburtsstunde der Berliner Operette. Lincke schrieb Musik für Varieté-Programme und für beliebte Interpretinnen von Couplets (satirische, oftmals zweideutige Lieder mit markantem Refrain). Dabei setzte er auf Komik: »Hoch das Bein!« war ein »Ulk-Marsch für Infanterie«. »Die deutsche Meereswacht« feierte die Marine, mit »Wir müssen siegen: Von rechts der Feind! Von links der Feind!« griff er einen weit verbreiteten Slogan der Zeit auf.

Am Metropol-Theater schrieb Victor Hollaender neben zahlreich en Operetten die sogenannten Jahres- Revuen; die kabarettistischen, von Tanz und Gesang geprägten Nummernrevuen waren zu einem herausragenden gesellschaftlichen Ereignis in Berlin geworden. »Und Michel lacht dazu!«, war seine Antwort auf den Kriegsausbruch – ein »vaterländisches Zeitbild«. Vom Titelblatt lächelt der deutsche Michel dem Publikum zu. Statt des üblichen Schlafrocks und der Zipfelmütze trägt er Uniform und Pickelhaube. Der Refrain des Couplets »Unsere 42er-Brummer« wurde während der Show vom Publikum zusammen mit den vortragenden Musikern wiederholt. Man sang also: »Junge, unsre großen deutschen zweiundvierz’ger Brummer schlagen jede Konkurrenz, jawohl, das ist ’ne Nummer, alles liegt gleich glatt am Bauch, knallt dieses Rohr, das starke – Junge, Junge, Junge, ja, das ist ’ne Marke!«

Wie bereits erwähnt, waren solche Titel vor allem in den ersten Monaten der Kampfhandlungen angesagt. Eine Kriegsoperette allerdings hielt sich bis zum bitteren Ende: Das von Walter Kollo vertonte »vaterländische Volksstück« »Immer feste druff!« mit dem Couplet »Der Soldate ist der schönste Mann bei uns im Staate«. »Wenn wir durch die Straßen zieh’n, alle Herzen für uns glühn! Frieda, Emma und Marie schwärmt für Infanterie!«, heißt es im Text. Kollos Schlager »Die Männer sind alle Verbrecher« aus der 1913 uraufgeführten Operette »Wie einst im Mai« wurde schnell zu »Die Russen sind alle Verbrecher « umgedichtet. Der Text wurde auf Bildpostkarten verbreitet und als Slogan auf Eisenbahnwaggons geschrieben.

Hang the Kaiser
Als am 2. April 1917 US-Präsident Woodrow Wilson Deutschland den Krieg erklärte, widmete sich auch die wohl am weitesten ausdifferenzierte Musikindustrie der Zeit dem Ziel der Mobilmachung. »The world must be made safe for democracy«, verkündete Wilson. Aus dem Nichts musste eine Armee geschaffen werden. Dazu wurde erheblicher Druck auf die potentiellen Rekruten ausgeübt, und natürlich wurde die Massenmobilisierung ideologisch begleitet. Nicht nur Hollywood wurde zur Fabrik für Kriegspropaganda – dort wurden etwa Filme wie »The Beast of Berlin« produziert –, auch aus der Tin Pan Alley, jener Straße in Manhattan, wo die meisten US-amerikanischen Musikverlage ansässig waren, erschallten jetzt Kriegsgesänge. Für die USA wurde Musik zur ultimativen Propagandawaffe: Der Anteil patriotischer Songs mit Kriegsbezug stieg von fünf Prozent im Jahr 1915 sprunghaft auf schließlich 70 Prozent im Jahr 1918.

Der Musical-Pionier George Michael Cohan, bekannt als »der Mann, dem der Broadway gehört«, forderte in »Over There« den US-amerikanischen Jugendlichen im Frühjahr 1917 auf: »Johnnie, get your gun«. »Yankee Doodle do or die«, so lautete das Motto – der Song wurde zum millionenfach verkauften Hit. Zum Kriegseintritt 1917 erfolgte der musikalische Schlachtruf: »We’re Going to Hang the Kaiser Under the Linden Tree!« von James Kendis. »The boys are marching to fight for peace and for democracy«, heißt es darin.

Der erfolgreichste Künstler der frühen Plattenindustrie überhaupt war Billy Murray; insgesamt 44 seiner Singles wurden zu Hits. Er veröffentlichte nach dem Kriegseintritt der USA zusammen mit seinem American Quartet den Song »Goodbye Broadway, Hello France«. Im Text heißt es: »We’re ten million strong, goodbye sweethearts, wives and mothers, it won’t take us long, don’t you worry while we’re there, it’s you we’re fighting for.« Auf der Rückseite der Platte war in Großbuchstaben zu lesen: »Music will help win the war!«

Für den Feldzug, der – so die Propaganda – Europa den Frieden und die Demokratie bringen sollte, wurden auch über 380.000 afroamerikanische Soldaten rekrutiert. Im Song »When the Good Lord Makes a Record of a Hero’s Deed He Draws No Color Line« (1918) wird ihnen in Aussicht gestellt, Gott selbst, der keine »color line« kenne, würde sie für ihren patriotischen Dienst auszeichnen. Komponiert wurde das Stück von Harry De Costa, dessen Namen in der Geschichte der Popmusik aus einem anderen Grund bekannt geblieben ist: Er schrieb den Text des »Tiger Rag«, einer Zugnummer der Original Dixieland Jass Band, die mit ihren ersten Plattenaufnahmen 1917 Sensationserfolge feierte. Die fünfköpfige Formation weißer Musiker um Nick LaRocca, der sich später zum Erfinder des Jazz stilisierte, konnte sich nicht zuletzt deshalb an die Spitze eines aktuellen Musiktrends setzen, weil, so das Urteil des Musikwissenschaftlers Tobias Widmaier, »eine ›color line‹ auch im Musikbusiness bestand«.

Hell Fighters
In einigen Songs werden die aus Schwarzen bestehenden Militär-Bands als schlagkräftige Waffen gegen die Deutschen beschrieben. »Those ragtime tunes will put the Germans in trance; they’ll throw their guns away, Hiphooray!«, heißt es in »When Alexander Takes His Ragtime Band to France«. Noble Sissle, der nach dem Tod von James Reese (»Jim«) Europe dessen Band übernehmen würde, schrieb in einem Beitrag für eine US-amerikanische Tageszeitung: »I sometimes think, if the Kaiser ever heard a good syncopated melody he would not take himself so seriously.« Die Story, wie Jim Europe und seine Harlem Hell Fighters Band den Jazz nach Europa brachten, ist berühmt. Europe war bereits im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg eine der zentralen Figuren der afroamerikanischen Musikszene New Yorks gewesen. Dass die Plattenfirma Victor ihn unter Vertrag nahm, war damals eine kleine Sensation: Es handelte sich um den ersten Plattenvertrag, den eine Band von Schwarzen erhielt. Im September 1916 war Europe der Army beigetreten, kurz darauf begann er damit, im 369. Infanterie-Regiment eine 40-köpfige Band aufzubauen. Am Neujahrstag 1918 ging es im französischen Brest von Bord. Als Lieutenant befehligte Europe eine Kompanie von MG-Schützen. Weil seine Männer sich im Kampf auszeichneten, erhielten sie den Beinamen »Harlem Hell Fighters«. Nach dem Waffenstillstand am 11. November wurde das Regiment ins Elsass verlegt und war damit die einzige amerikanische Einheit, die im Ersten Weltkrieg bis zum Rhein gelangte. In Frankreich spielte die Band Konzerte vor über 50.000 Menschen, im Februar 1919 wurde das Regiment mit einer Parade in New York geehrt. Mit einem auf 60 Musiker vergrößerten Ensemble – angekündigt als »The Band That Set All France Jazz Mad!« – unternahm Europe eine zweimonatige Konzerttournee durch mehrere Bundesstaaten der USA. Gleichzeitig breitete der Jazz sich auch in Europa rasch aus, was nicht jedem passte.

Hanns Eisler kam mit seinen ersten beiden Antikriegsliedern und einer dezidiert internationalistischen Überzeugung aus dem Ersten Weltkrieg. Kurz vor seinem 63. Geburtstag sollte er rückblickend sagen: »Als ich nun aber 1916 gar noch Soldat wurde, im Schützengraben lag, und man gab mir ein Gewehr und befahl mir, einen italienischen Soldaten zu erschießen auf der anderen Seite, dem man ebenfalls befohlen hatte, auf mich zu schießen, seit diesem Moment war ich immer ein politischer Mensch.« Andere steigerten sich nach der deutschen Niederlage in geradezu krankhafter Art in den Hass auf alles »Undeutsche« hinein. Ein ehemaliger Gefreiter etwa, der in der Schlacht an der Somme 1916 durch einen Granatsplitter verwundet worden war, holte in den 1920er-Jahren zu einem Rundumschlag aus: gegen Franzosen, Schwarze und – jetzt neu – gegen Juden. »Die Verpestung durch Negerblut am Rhein im Herzen Europas entspricht ebenso sehr der sadistisch-perversen Rachsucht dieses chauvinistischen Erbfeindes unseres Volkes wie der eisig kalten Überlegung des Juden, auf diesem Wege die Bastardierung des europäischen Kontinents im Mittelpunkte zu beginnen«, schreibt Adolf Hitler in »Mein Kampf«. Anstatt zum Jazz das Tanzbein zu schwingen, treibt er sich in Wagner-Opern herum, wo er, wie er später behaupten wird, von einer »besonderen Mission« zu träumen beginnt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Den Artikel lesen Sie in der M&R 4/2014, erhältlich ab dem 27. Juni 2014 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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