Melodie & Rhythmus

Nicht alles ist verloren

22.02.2016 14:28
Kiew: Kreative üben sich in antirussischer Propaganda Foto: Reuters / Valentyn Ogirenko

Kiew: Kreative üben sich in antirussischer Propaganda
Foto: Reuters / Valentyn Ogirenko

Die Dichterin Jelena Saslawskaja über die Kulturlandschaft in den »Volksrepubliken« Lugansk und Donezk

Interview: Andrej Ukrainski

Die Dichterin und Spoken-Word-Künstlerin Jelena Saslawskaja ist Mitglied der Union der Schriftsteller der nicht anerkannten »Volksrepublik« Lugansk (LNR). Im Dezember vergangenen Jahres reiste sie nach Charkow in die Ukraine, um an dem Kongress »Debate on Europe: Reden über Zukunft. Perspektiven des Zusammenlebens in Konfliktregionen« teilzunehmen, der von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit organisiert worden war. M&R bat sie um ein Interview.

Ihre Gegner behaupten, kulturelle Entwicklung sei in den »Volksrepubliken« Donezk und Lugansk gar nicht mehr möglich. Stimmt das?

Das ist leider ein sehr verbreiteter Mythos. Er setzt die Hassrhetorik fort, die schon lange vor dem Krieg begann. Die ukrainische Intelligenz meint, die meisten klugen, kreativen und begabten Menschen hätten Donezk verlassen. Wir erleben hier zwar nicht gerade eine kulturelle Renaissance, die Behauptung einer völligen Abwesenheit von Kultur dient aber dazu, die Bevölkerung von Donezk zu entmenschlichen. Unsere Theater sind voll, die bildenden Künstler malen, die Schriftsteller veröffentlichen Bücher, die Museen und Bibliotheken haben versucht, ihre Archive zu retten.

Vielleicht meinen Ihre Kritiker damit aber auch, dass die Zensur und die Risiken für die Kulturschaffenden die Kunst unterdrücken.

Es gibt wirklich Risiken. Sie wissen vielleicht von den »mysteriösen« Morden an oppositionellen Kommandeuren wie Alexej Mozgovoi von der Brigade Prisrak in der LNR. Zugleich sind die meisten von uns überzeugt, dass Kritik im Innern in die Hände unserer Feinde spielt. Wir werden von außen mit so viel Schmutz beworfen – da schreckt man davor zurück, zu kritisieren, was hier passiert. Sicher hatten wir Hoffnungen, die sich nicht erfüllt haben. Aber wir sind in einem Ausnahmezustand: Wir hatten einen Krieg genau hier; zum normalen politischen Aktivismus überzugehen erschiene daher im Moment unangemessen.

Einige Ihrer Argumente sind denen ukrainischer Künstler sehr ähnlich, die es vorziehen, Putin statt der eigenen Politiker zu kritisieren. Was ist Ihrer Ansicht nach der Hauptunterschied zwischen diesen ukrainischen Künstlern und denen der LNR?

In erster Linie schüren wir keinen Hass auf die Ukraine und die Ukrainer. Wir betreiben keine Kampagne der Dehumanisierung. Ukrainische Künstler dagegen tragen leider gravierend zur Eskalation der Hetze gegen die Menschen unserer Republiken bei.

Gibt es irgendeinen Erfolg zu verzeichnen in den Bestrebungen, mit Ihren Kollegen aus der Ukraine in einen Dialog zu treten?

Schon im Sommer 2014 habe ich zwei ukrainische Schriftsteller getroffen, Serhij Schadan, einen der führenden Köpfe des Maidan in Charkow, und Jurij Andruchowitsch, einen Maidan-Unterstützer. Das war im Rahmen des Thementags »Die Dichter vom Maidan« auf dem Poesie-Festival der Literaturwerkstatt Berlin. »Dialog« kann man das aber kaum nennen. Die sehr emotional geführte Diskussion bestand vor allem aus Vorwürfen und Anschuldigungen. Bei meinem letzten Besuch in Charkow anlässlich der »Debate on Europe«-Veranstaltung bemerkte ich einige Veränderungen zum Positiven. Die Tatsache, dass Schadan mich eingeladen hat, heißt schon etwas. Einige, wie der Schriftsteller Ingo Schulze und die ukrainische Fotografin Evgenia Belorusets, zeigten sogar den Willen, uns zu besuchen, um sich anzusehen, was hier wirklich vor sich geht. Nachdem ich nach Hause zurückgekehrt war und die Berichte der ukrainischen Presse über die Veranstaltung las, war ich schockiert und dachte, dass all meine Anstrengungen und die Risiken, die ich auf mich genommen hatte, vergeblich gewesen waren: So viele Lügen! Doch schon bald bekam ich ein riesiges Feedback – auch viele Zuschriften von Menschen aus der Ukraine, die meine Arbeit unterstützen. Ich denke, nicht alles ist verloren, und hoffe, dass der Gipfel der Eskalation des Hasses überwunden ist.

Der Beitrag erscheint in der Melodie und Rhythmus 2/2016, erhältlich ab dem 26. Februar 2016 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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