Das griechische Rembetiko – eine progressive Massenkultur
Jannis Chasoglou
Wer in Athen, Thessaloniki, Iraklion oder einer anderen griechischen Stadt abends ausgeht, merkt schnell, dass sich die Hellenen auch durch die desaströse Lage nicht vom Leben und Feiern abhalten lassen. Neben vielen Bars mit westlicher oder einheimischer Popmusik spielt dabei auch traditionelle Musik eine wichtige Rolle. Menschen fast aller Altersgruppen, aber gerade auch junge Griechen, treffen sich in Restaurants und Cafés, in denen kleine Gruppen von Musikern spielen. Die Musik, deren Melodien vor allem auf der Bouzouki (einem Zupfinstrument mit bauchigem Klangkörper und drei oder vier Doppelsaiten) gespielt und in der Regel von Gesang und Gitarren-Akkorden begleitet werden, heißt Rembetiko.
Das Rembetiko ist ein vielseitiges Genre, das traurige Melodien ebenso kennt wie fröhliche, komplizierte ebenso wie einfache. Die Herkunft des Namens ist nicht genau bekannt. »Rembétis« ist ein schwer zu übersetzendes Wort. Im Slang des griechischen Proletariats der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bezeichnet es einen durch Leid und Armut abgehärteten, in der Musik und den Drogen seinen Ausweg suchenden Mann aus den Armenvierteln.
Einerseits basieren die Lieder in der Regel auf Wiederholungen eines musikalischen Themas; anderseits beginnen versierte Bouzouki-Spieler ein Lied oft mit einer längeren Improvisation (dem Taximi). Zu vielen Rembetika kann man auch tanzen – beispielsweise den schwermütigen Improvisationstanz Zeibekiko. Bei diesem Tanz, der keine feste Schrittfolge kennt (die aber deswegen noch lange nicht beliebig ist), versuchen Männer und auch immer mehr Frauen, ihre Sehnsüchte und Leiden auszudrücken. Auch das trägt wohl dazu bei, dass die Bedeutung des Rembetiko in einer von Jahren der Krise und Verarmungspolitik zerrissenen Gesellschaft mit unzähligen tragischen Einzelschicksalen nicht abnimmt.
Die eigentliche Geburtsstunde des Rembetiko liegt nicht zufällig in einer anderen schweren Krise der griechischen Gesellschaft – der der 20er-Jahre. Die Zeit zwischen den Kriegen wurde überall auf dem »Alten Kontinent« als eine Ära der Katastrophen, von politischer Instabilität, sozialen Spannungen und Kulturpessimismus erlebt. Es gab erbitterte Kämpfe zwischen den Anhängern des eher liberalen Premierministers Elefthérios Venizélos und den Royalisten; auf Putsche folgten Gegenputsche. Die Monarchie wurde 1924 abgeschafft, dann 1935 wieder eingeführt, 1936 errichtete Ioánnis Metaxás eine faschistische Diktatur nach italienischem Vorbild. Die erst aufkeimende Arbeiterbewegung und ihre Parteien wurden brutal unterdrückt. Das Rembetiko hatte nach den Vorstellungen des neuen Regimes keinen Platz in der Gesellschaft und wurde verboten. Das urbane Proletariat traf sich in geheimen Kellerräumen, wo beim Rembetiko Haschisch und Opium konsumiert und um die letzten paar Drachmen gewürfelt wurde. Praktisch alle großen Figuren des Rembetiko kamen aus armen Verhältnissen und erlebten Mangel und Hunger am eigenen Leib. Darüber hinaus bot das Rembetiko verschiedenen Minderheiten eine Ausdrucksform, so etwa der Jüdin Rósa Eskenázy, der bekennenden Homosexuellen Sotiría Béllou, dem Katholiken Márkos Vamvakáris, der Armenierin Maríka Nínou oder den Kommunisten Genítsaris und Góngos.
Für die griechische Gesellschaft dieser Zeit spielte ein historisches Ereignis eine zentrale Rolle, das die sonstigen Krisenerscheinungen noch überschattete: Der 1922 verlorene Krieg gegen die Türkei und die daraus folgende Vertreibung von 1,2 bis 1,5 Millionen Griechen aus den Städten der Küsten Kleinasiens und des Schwarzen Meeres, deren man sich bis heute als die »Kleinasiatische Katastrophe« erinnert. Wer den nationalistischen Massakern entkam, reiste meistens mit nichts außer einem Koffer in ein »Vaterland« ein, das man in der Regel nie zuvor besucht hatte.
Der plötzliche Bevölkerungszuwachs stellte das Land vor extreme Probleme, die jahrzehntelang nicht gelöst werden konnten. Die Vertriebenen brachten jedoch auch die kulturellen Traditionen der griechischen Bevölkerung aus der Türkei mit, auch die frühen Formen des Rembetiko. Besonders in den Hafenvierteln von Piräus entstand unter dem Einfluss von orientalischen und griechisch-kleinasiatischen Elementen zusammen mit der einheimischen traditionellen Volksmusik ein ständig wachsendes Spektrum von Liedern.
Die Texte erzählten, besonders in den ersten Jahrzehnten, von den großen gesellschaftlichen Fragen und den unmittelbaren Problemen der Armen: Den Drogen, der Unterdrückung durch die Polizei, dem Leben im Gefängnis, der Verzweiflung, aber – obwohl in den meisten Liedern das individuelle Erleben im Zentrum steht – auch der Politik und den großen Kämpfen der Epoche. So schrieb Vasílis Tsitsánis, der wohl bedeutendste Komponist des Rembetiko überhaupt, das Lied »Tis kinonías i diafora« (die gesellschaftliche Ungleichheit) über Armut, Reichtum und Klassenkampf, in dem es heißt: »Zwei Wege teilen sie / Diese Gesellschaft / Schwarzes Unheil bringen sie / Die Armut und den Reichtum.«
Mit der faschistischen Besatzung durch Deutsche, Italiener und Bulgaren begann bald auch der antifaschistische Widerstand, der unter der Führung der kommunistischen Partei KKE schnell zur größten Massenbewegung der griechischen Geschichte anwuchs. Viele der bedeutendsten Rembetika entstammen dieser Epoche: Tsitsánis wird zum Sympathisanten; er komponiert und singt gegen die Besatzung an. Um die Zensur zu umgehen, maskierte er politische Inhalte mithilfe von Allegorien und Symbolen. Das berühmteste dieser Lieder ist wohl »Sinnefiasméni kiriakí« (bewölkter Sonntag), das nur vordergründig vom Wetter handelt und in Wirklichkeit eine Anklage der tiefen Nacht ist, die Griechenland unter dem Hakenkreuz erlebt. Michális Genítsaris schreibt direkt Lieder für den Widerstand: »O saltadóros« handelt von einer Bewegung junger Griechen, die unter direkter Lebensgefahr auf deutsche Fahrzeuge aufspringen, um ihnen Ausrüstung zu entwenden. »Die Deutschen machen Jagd auf uns«, singt Genítsaris, »aber wir hören nicht auf sie / Wir springen weiter auf / Bis sie uns umbringen«. »Enas rembétis ésvise« ist eine Hommage an den kommunistischen Partisanenführer Áris Velouchiótis, der 1945 von rechtsradikalen Paramilitärs ermordet wurde. Der kommunistische Widerstandskämpfer Dimítris Góngos (Pseudonym: Bajiandéras) besingt mit »Fórese andárti t‘ ármata« (Trag deine Waffen, Partisan) eine Mutter, die sich von ihrem Sohn verabschiedet, der in die Berge zu den Partisanen zieht: »Trag deine Waffen, Partisan / schnall dir auch deinen Säbel um / und ziehe in den Krieg / die Freiheit an deiner Seite«.
Nach dem Krieg erfüllte sich der Traum hunderttausender Menschen von einem freien Griechenland und einer Überwindung von Armut und Unterdrückung nicht. Nach dem Abzug der Deutschen installierten die Briten und Amerikaner ein neues repressives Regime, das sich auf die faschistischen Kollaborateure und die Monarchie stützte. Der Bürgerkrieg von 1946-49 kostete Zehntausende das Leben und endete mit einem Sieg der extremen Rechten. Die letzten Kompositionen des klassischen Rembetiko entstanden in den 50ern, danach brach auch kulturell eine neue Ära in Griechenland an. Dennoch war auch in den folgenden Jahrzehnten sein Einfluss auf die griechische Musik unmittelbar spürbar: in den Liedern von Míkis Theodorákis, Stávros Xarchákos, Mános Loízos, Stélios Kazantzídis und anderen. So blieb das Rembe tiko stets eng verbunden mit den Leiden, den Hoffnungen und auch den großen Kämpfen des einfachen Volkes – bis heute.
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