
Illustration: Nachlass Arno Mohr / Andreas Wessel, 2022
Kinder gelten als besonders aufmerksame Beobachter. Nichts entgeht ihren wachsamen Augen. Was so viele von ihnen gegenwärtig an Grauen in der Ukraine sehen müssen – das erinnert uns schmerzlich an unsere Pflicht, für die Ächtung imperialistischer Aggressionen einzutreten. Allein wenn man bedenkt, dass die Kinder hierzulande gerade das schaurige Einmaleins der Kriegshetze gelehrt bekommen und als Argument für die Militarisierung der Gesellschaft instrumentalisiert werden. Nun will die Bundesbildungsministerin sogar Jugendoffiziere der Armee in die Schulen schicken, die schon die Kleinen über die neuen »Herausforderungen einer bündnisorientierten Sicherheitspolitik« angesichts des russischen Angriffs »aufklären« sollen.
Unlängst verbreiteten westliche Propagandamedien ein herzzerreißendes Video aus der Ukraine: vom tränenreichen Abschied eines kleinen Mädchens von seinem Vater, der angeblich in den Krieg zieht, um sein Land gegen die russischen Invasoren zu verteidigen. In Wahrheit wurde der Beitrag bereits vor der Eskalation des Krieges bei der Evakuierung von Zivilisten aus Gorlowka aufgenommen – die Bewohner der Frontstadt im Norden der selbsternannten prorussischen Volksrepublik Donezk sind seit nunmehr acht Jahren dem Artilleriebeschuss der ukrainischen Armee ausgesetzt. Manipulationen wie diese belegen die doppelten Standards der NATO-»Wertegemeinschaft«, die konsequent das Leid der erklärten »Feinde« und ihrer Kinder ausblendet.
Nicht besser ergeht es den Kindern – heute vor allem an der Peripherie des westlichen Imperiums –, aus deren Arbeitskraft gnadenlos Profit gepresst wird: »Unter den vielen schweren Verbrechen des Kapitalismus, über welche die Geschichte zu Gericht sitzen wird, ist keines brutaler, grausiger, verhängnisvoller, wahnwitziger, mit einem Worte: himmelschreiender als die Ausbeutung der proletarischen Kinder«, notierte Clara Zetkin 1902. Dieser Anklage schließen wir uns an, indem wir den »kleinen Sklaven« den Leitartikel des Titelthemas dieser Ausgabe widmen. In diesem Heft befassen wir uns auch mit proletarischem Kindertheater, sozialistischen Kinderliedern und -büchern, die den Kleinen helfen sollen, ihre Lebenswelt zu erkunden und zu begreifen. Aber wir haben uns auch verdrängten Realitäten wie dem Tod von Kindern genähert – nicht zuletzt, um auf das Potenzial der Kunst zu verweisen, sie zu bewältigen. Bürgerliche Heile-Welt-Familienideologie verbreitet die Illusion, Kinder durch Dauerquarantäne in kunterbunten Konsumuniversen vor allem Bösen und Schlechten bewahren zu können. Dagegen gilt es, der Wahrheit zu begegnen, dass bis heute vor allem Arbeiterkinder Unterdrückung und Diskriminierung ausgesetzt sind. Daher ist es auch eine Aufgabe der Künstler, sie zu ermutigen, sich gegen die Drangsalierungen der Klassengesellschaft zu wehren. Astrid Lindgren hat das mit ihren »Brüdern Löwenherz« getan und gezeigt: Zu den schärfsten Waffen der Kinder in ihrem Kampf gegen das Unrecht gehört die besondere Fähigkeit zur Empathie. Von ihrem Einfühlungsvermögen, das noch nicht durch Warentauschlogik betäubt ist, können wir eine Menge lernen. Angesichts der von den Herrschenden proklamierten »Zeitenwende« zum totalen Krieg ist das sogar dringend notwendig, wenn wir nicht unsere Menschlichkeit verlieren wollen. Kürzlich klagte ein als »Putin-Versteher« geschmähter Kollege die geifernden Hasstiraden der Bundesbürger an, die jetzt die trauernde Erinnerung an die Millionen sowjetischer Kriegsgefangener, die Hitlerdeutschland vorsätzlich verhungern ließ, für entbehrlich halten. »Wer niemals um Russen geweint hat, wer noch immer den Zweiten Weltkrieg gewinnen will«, schrieb er, »sollte sich schämen – oder schweigen.«
Liebe Leser, wir hingegen müssen umso lauter ein Hausverbot für die Bundeswehr und andere Heldentodhausierer in den Schulen fordern – alle Kriegstreiber sollten erst mal an den kalten Soldatengräbern nachsitzen, und zwar im Fach deutsche Geschichte.
Susann Witt-Stahl
Chefredakteurin M&R
Der Beitrag erscheint in der Melodie & Rhythmus 2/2022, erhältlich ab dem 1. April 2022 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.
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