Die Weltkriege hatten mit ihrem entfalteten Massenvernichtungspotenzial bei vielen Künstlern und Intellektuellen blankes Entsetzen ausgelöst. »Der Krieg ist der Vater allen Rückschritts«, notierte der Schriftsteller Arnold Zweig 1957. Aber erst in unserer Gegenwart kommt die ganze Wahrheit seiner Feststellung richtig zur Geltung: Der Krieg zerstört nicht nur die materiellen Daseinsgrundlagen und katapultiert ganze Bevölkerungen auf primitivste Entwicklungsstufen zurück − allein was uns in den vergangenen Jahren an Dämonisierung Russlands zugemutet wurde, zeigt: Schon als kalter Krieg suspendiert er auch jedes vernünftige Denken und revidiert die Errungenschaften der Aufklärung, bis von ihr nur noch Massenbetrug übrig bleibt, der von einer alle Bereiche unserer Lebenswelt durchdringenden Kulturindustrie zur Ware verarbeitet und vermarktet wird. Mehr noch als Traum erweisen sich Lügen und Hassfabriken für das Kapital als Goldgruben und Garanten seiner Macht – strebt es doch stets danach, seine unzähligen Krisen durch Überproduktion von Rüstungsgütern und Konsumption, Kugel, Bomben und Raketenhagel, zu lösen.
In Deutschland hat die rotgrüne Schröder-Regierung 1999 die Schleusen für eine von der Realität entgrenzte Propaganda mit einem doppelten Tabubruch geöffnet: Erstmals seit Ende der NS-Herrschaft ging von deutschem Boden wieder ein Angriffskrieg aus (der 20. Jahrestag seines Beginns, der 24. März 2019, ist der Anlass, das Titelthema »Kriegspropaganda« für diese Ausgabe zu wählen). Und die Meinungsmaschine spuckte dafür vollendeten orwellianistischen Irrsinn aus, ließ die seit der »Wende« 1989 zunehmende heteronome Instrumentalisierung der eigenen Vergangenheit in einem bisher nicht gekannten Ausmaß von Geschichtsklitterung ausufern und lieferte die Blaupause einer Rechtfertigungsideologie für eine aggressive Außenpolitik, die nicht zu rechtfertigen ist: Seit Jugoslawien begründet der deutsche Imperialismus seine gegenwärtigen und zukünftigen Verbrechen mit dem Menschheitsverbrechen, das er damals begangen hat, und vereinnahmt die Opfer als »Argument« dafür, neue Opfer zu produzieren.
Vor allem von der rechtsopportunistischen parlamentarischen Linken eher Komplizenschaft als Opposition gegen diese Perfidie zu erwarten ist, lasten wie so oft die letzten Hoffnungen auf Kunst und Gegenkultur: Sie können die Verhältnisse, welche die Ungeheuerlichkeit forcieren, den neuen kategorischen Imperativ, den Auschwitz der Menschheit aufgegeben hat, in sein Gegenteil zu verkehren (nicht nur ein erinnerungspolitischer GAU), transzendieren und uns zumindest temporär einer Verblendung entreißen, die uns immer wieder das Unerträgliche hinnehmen statt es beseitigen lässt.
In dieser Ausgabe stellen wir mit der M&R-KünstlerKonferenz ein Projekt vor, das auf Basis unseres Entwurfs eines »Manifests für Gegenkultur« (s. M&R 1/19) Perspektiven gegen den Rechtsruck in unserer Gesellschaft und Widerstand gegen den zerstörerischen Wahnsinn aufleuchten lassen soll. Und natürlich präsentieren wir kritische Analysen des waffenklirrenden Zeitgeists und antimilitaristische Werke, die seine Inhumanität entlarven. Eine besondere Freude ist es für uns, dass Jürgen Holtfreter (ja genau, der Künstler, der 1968 in Anlehnung an eine Bundesbahn-Werbekampagne das legendäre SDS-Plakat mit dem Titel »Alle reden vom Wetter. Wir nicht.« mit den Köpfen von Marx, Engels und Lenin gestaltet hatte) einige Antikriegs-Montagen beigesteuert hat.
Liebe Leser, genießen Sie, dass diese Gegenkultur kein Schweigen zulässt, sondern nach unserem Einspruch verlangt gegen die Kriegstreiberei.
Susann WittStahl
Chefredakteurin M&R