Melodie & Rhythmus

Propaganda fürs Weiße Haus

29.03.2017 14:24
Vice-Chef Shane Smith Fotos (Montage): Reuters/LUCAS Jackson; Carlos Barria

Vice-Chef Shane Smith
Fotos (Montage): Reuters/LUCAS Jackson; Carlos Barria

Warum Vice alles Andere als eine Plattform für linke (Sub-)Kultur ist. Ein Gespräch mit dem US-amerikanischen Journalisten Robbie Martin

Interview: John Lütten

Die Berichterstattung des Vice-Magazins liegt auf der Linie der expansiven US-Außenpolitik. Das meint jedenfalls der Journalist und Filmemacher Robbie Martin aus Oakland, Kalifornien. Im Rahmen seiner dreiteiligen Dokumentation »A Very Heavy Agenda« über die Ideologie und Politik der Neocons nach den Anschlägen von 9/11 hat er die Berichterstattung von Vice kritisch analysiert. M&R sprach mit ihm über die Konstruktion von Feindbildern, subjektivistisch-manipulative Berichterstattung und den kurzen Dienstweg von Vice zum Weißen Haus.

Vice gehört zu einem milliardenschweren Medienimperium, wird aber als rebellisches Jugendmagazin und wichtige Instanz der Anti-Establishment-Kultur gehandelt. Wie passt das zusammen?

Gar nicht! Vice kokettiert mit einer unangepassten und kritischen Attitüde, weil es Themen für urbane »Millenials« und junge Erwachsene mit einer »edgy« daherkommenden Haltung behandelt. Aber das ist nur Inszenierung: Die Umsätze des Unternehmens resultieren zum großen Teil aus der Arbeit oftmals schlecht bezahlter Freelancer, und es hat Investoren wie den Hardcore-Neocon Rupert Murdoch. In seinen Anfangsjahren mag das Vice-Magazin durchaus in der Subkultur angesiedelt gewesen zu sein, aber mittlerweile ist sein Anti-Establishment-Image nichts anderes als ein wesentlicher Baustein seiner Vermarktungsstrategie. Schließlich hat Vice-Gründer und CEO Shane Smith selbst das Ziel ausgegeben, größer als CNN zu werden …

In Ihrer Dokumentation »A Very Heavy Agenda« kritisieren Sie die Vice-Berichterstattung zur US-Außenpolitik als »Hipster-Propaganda«. Warum?

Kurz nach Beginn des Syrien-Krieges sind mir bereits einige Vice-Autoren wie Molly Crabapple aufgefallen, die Linke, die eine kritische Sicht auf die »Rebellen« haben, via Twitter oder anderen sozialen Medien als »Assad-Freunde« oder »Verschwörungstheoretiker« diffamierten. Im Zuge der Ukraine-Krise 2014 wurde mir klar, dass sich die Vice-Berichterstattung, die ich bis dahin noch für kritischer als den Mainstream gehalten hatte, gar nicht von dessen Propaganda unterscheidet. Sie wirkt durch ihre Inszenierungen nur authentischer und unverfälschter: Die Doku-Serie über den Ukraine-Konflikt »Russian Roulette« etwa, die von Vice-Reporter Simon Ostrovsky präsentiert wurde, bedient dieselben prowestlichen und antirussischen Narrative, nur subtiler. Russland erscheint als bedrohlich, politisch korrupt, machtbesessen und Putin als eine Art Dr. Seltsam, der nach der Weltherrschaft greift. Die NATO hingegen wird neutral dargestellt, und dass das ukrainische Militär mit militanten Neofaschisten kooperiert, wird nicht einmal erwähnt. Ähnlich tendenziös die ersten Vice-Reportagen über den sogenannten Islamischen Staat (IS): Es wird konsequent vermieden, dessen Entstehung im real existierenden Zusammenhang mit der US-Außenpolitik zu betrachten. Nicht anders als bei Fox News, stellt Vice die IS-Anhänger nur als besessene Fanatiker und als das ultimativ Böse dar. Diese rein emotionalisierende Berichterstattung baut nicht nur ein Bedrohungsszenario auf, sondern trägt auch dazu bei, die US-Außenpolitik zu legitimieren. Außerdem frage ich mich, woher Vice den auffallend guten Draht zu all den islamistischen Gruppierungen hat – also nicht nur zum IS, sondern auch zu den syrischen Rebellen, die mitunter vom CIA ausgebildet und finanziell unterstützt wurden.

Vice-Berichte sind stets subjektiv und wertend, im Mittelpunkt stehen junge Reporter, die spontan ihre Eindrücke schildern.

Genau. Anders als bei den etablierten führenden Medien scheint es auch, als existiere kaum eine politische Agenda – alles wirkt direkt, roh und unbearbeitet. Zu den Berichten gibt es nur einen sehr kurzen politisch-analytischen Vorspann. Die Reporter erzählen affektiv und scheinbar ungefiltert, was sie erleben. Es sind auch fast immer junge Nachwuchsautoren, die noch kein klares Profil haben, aber ein junges Publikum erreichen, weil sie dessen Sprache beherrschen und gute Identifikationsfiguren abgeben. Die Erzählmuster, die all dem zugrunde liegen, wirken daher sehr subtil. Dieser auf Sensation und Effekt ausgelegte Subjektivismus ist die ideale Methode für manipulative Berichterstattung und die Konstruktion von Feindbildern.

Kann denn überhaupt unabhängig über US-Politik berichten, wer Rupert Murdoch als Geldgeber hat?

Wer politisch klar und starken Willens ist, könnte das vielleicht. Nur hat Vice-Chef Shane Smith es ja erklärtermaßen darauf abgesehen, ein global erfolgreicher Medienunternehmer zu werden. Dass Vice alles andere als politisch unabhängig ist, sehen Sie etwa daran, dass auf staatlich unterstützte US-Medien zurückgegriffen wird, während Quellen wie Russia Today ignoriert und abgelehnt werden. Staatlich finanzierte Medien anderer Länder werden in der Vice-Berichterstattung meist als solche gekennzeichnet. Die, die zum US-amerikanischen Broadcasting Board of Governors (BBG) – einer Medienbehörde, die mehrere Rundfunk- und Fernsehsender betreibt und westliche Werte propagieren soll – gehören, aber fast nie. Bis vor wenigen Jahren war die journalistische Verwertung von BBG-Quellen im Inland untersagt. Seitdem das Gesetz abgeschafft wurde, greift Vice häufig auf sie zurück. Auch die Experten und Kommentatoren, die in ihren Berichten heran- gezogen werden, sind oftmals Neocons aus Denkfabriken wie dem Atlantic Council, während kritische Linke praktisch nie zu Wort kommen. Normalerweise sollte all das dazu veranlassen, die Unabhängigkeit des Magazins zu hinterfragen. Aber es gelingt Vice bis heute, sein kritisches Image zu bewahren.

Das Unternehmen schien auch einen heißen Draht zur Obama-Administration zu haben …

In der Tat. Im Januar 2015 wechselte Alyssa Mastromonaco, bis dahin Deputy Chief of Staff for Operations im Weißen Haus, zu Vice. Nur zum Vergleich: Als George W. Bushs Pressesprecherin Dana Perino zu Fox News ging, gab es einen Aufschrei, und die drehtürähnliche Beziehung zwischen Politik und Medien wurde massiv öffentlich angeprangert. Bei Vice scheint das nun kein Problem mehr zu sein. Und Obama persönlich durfte jüngst ein ganzes Vice-Special hosten, in dem er das US-Gefängnissystem erklärt und kritisiert. Er war also nicht nur Interviewpartner, sondern präsentierte die ganze Sendung und durfte pünktlich zum Ende seiner Amtszeit noch einmal seinen eigenen Kritiker spielen und sich selber antworten. Dass er als US-Präsident ja nun all diese Missstände hätte angehen können, wurde mit keinem Wort erwähnt – und Shane Smith, ebenfalls dabei, stellte ihm keine einzige unangenehme Frage! Das wirkte fast, als habe das Weiße Haus den Beitrag selbst produziert.

Und trotzdem gibt es erstaunlich viele Linke, die Vice zur Plattform für kritische und subversive Positionen verklären oder sich sogar als Reporter andienen. Woher die Naivität?

Das hat einerseits eine banale karrieristische Dimension: Vice ist gut für den Lebenslauf. Hier in den USA haben viele bekanntere linksliberale Journalisten schon einmal für das Magazin gearbeitet. Darüber hinaus ist Vice in mehrfacher Hinsicht Vorreiter einer völlig neuen Form von Medienunternehmen und -kultur. Es ist objektiv Mainstream, gibt sich aber nonkonform und platziert seine politische Berichterstattung unmittelbar neben Beiträgen über Subkultur, Drogen und Sexualität. Zusammen mit der schnoddrigen, rebellischen Attitüde ist gerade dieses Nebeneinander von Propaganda und Lifestyle entscheidend. Denn so gelingt es, ein junges und im weitesten Sinne linkes Publikum anzusprechen, das die etablierten Medien nur noch schwer erreichen. Mit dem Effekt, dass auch einige Linke empfänglich für die subtile Manipulation werden. Sie glauben, Vice stünde auf ihrer Seite.

Was sagt das über den Zustand der Linken aus?

Wir könnten, drastisch formuliert, womöglich das Ende der Linken erleben – ein sehr beängstigender Gedanke. Ich habe den Eindruck, dass sie gerade in einem Ausmaß propagandistisch bombardiert wird, wie wir es, zumindest hier in den USA, seit den 70er-Jahren nicht mehr erlebt haben. Es wird versucht, den Common Sense der Linken, vor allem der Antikriegsbewe- gung, in affirmative Bahnen zu lenken, sie zu spalten und Kritik zu neutralisieren. Dazu braucht es Medien und Journalisten, die bewusst oder unbewusst dabei mithelfen, indem sie linke Milieus erreichen. Genau das macht Vice – und das ist es, was so gefährlich ist.

Das komplette Interview lesen Sie in der Melodie & Rhythmus 2/2017, erhältlich ab dem 31. März 2017 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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