Früher war nicht alles besser. Trotzdem wird die Retromania immer beliebter.
Text: Klaus Walter, Foto: Jean Martin
Komische Bilder: Drei barfüßige Jungs in Karohemden zu Khakihosen tragen ein blaugelb-gestreiftes Surfbrett über den sonnenbeschienenen Strand. Zwei junge Männer mit halblangen Haaren überqueren von links nach rechts einen Zebrastreifen, einer von ihnen barfuß. Ein Typ mit schwarzer Lederjacke, schwarzem TShirt, schwarzer Sonnenbrille, zerrissenen Jeans und Chucks steht vor einer grauen Backsteinwand. Ein leerer Raum mit verwitterten gelben Tapeten, in der Ecke ein Stuhl mit fleckig-beigem Polster. Ein Lebensmittel-Berechtigungsschein des City Of Brooklyn Zoo mit mehreren Stempeln und einer Unterschrift – ohne Foto.
Man erkennt sofort, worum es geht, aber es fehlt was. Es handelt sich um Plattenhüllen, die wir so oft gesehen haben, dass wir uns Teile des Bildes wegund wieder hinzudenken können. Es sind die Cover von: Beach Boys: »Surfer Girl«; Beatles: »Abbey Road«; Ramones: »Ramones«; Johnny Thunders: »So Alone«; Ol‘ Dirty Bastard: »Return To The 36 Chambers«. Auf http://liveiseedeadpeoples. tumblr.com/archive findet man die vertrauten Coverfotos mal anders.
Abgebildet sind nur noch die Überlebenden. Bei den Beach Boys fehlen Carl und Dennis, bei den Beatles vermisst man John und George, von den vier Ramones ist nur noch Tommy übrig, der Stuhl, auf dem so alone Johnny Thunders saß, bleibt leer, auf dem Lebensmittelgutschein fehlt der durchdringende Blick des Ol‘ Dirty Bastard mit den Starkstrom-Dreads. Die im Stalin-Style retuschierten Fakes sorgen seit ein paar Monaten für Heiterkeit im Netz.
Aber was genau bringt einen zum Lachen, wenn man das Morrison Hotel ohne Morrison sieht, wenn man Yoko Ono sieht, die sich mit geschlossenen Augen an einen nicht mehr vorhandenen John Lennon anschmiegt, keine Double Fantasy? Ist es die Irritation? Die tausendmal gesehenen, gehorteten, gespeicherten, archivierten Bilder plötzlich auf diese Weise aktualisiert, auf den Stand der Dinge gebracht? Die digitale Retusche ist Arbeit am Mythos, also das Gegenteil einer Entmystifizierung. Hier wird nichts entzaubert, hier wird der Zauber des vollständigen Bildes und der mit ihm verknüpften Pop-Erinnerung durch das Ausradieren der Protagonisten erst recht überhöht. Die Erinnerung kopiert die Wegretuschierten ins Bild zurück, im Kopf des Betrachters kehren die Toten zu den Lebenden zurück.
Den kompletten Beitrag lesen Sie in der Melodie&Rhythmus 2/2012, erhältlich ab dem 2. März 2012 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch hier bestellen.
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