Melodie & Rhythmus

Editorial: DAS OHR LIEST MIT

23.02.2011 22:26

1977 hüpfte die Jugend der DDR im Takt eines Balkan-Stampfers durch die Diskotheken. Wenn der fesche Georgi geigte und der schmucke Toni sang, grölte das entfesselte Publikum den Refrain textsicher mit: »Ho! Nananana / Ho! Nanananananei /Nananananei «. Das liest sich etwas schwachsinnig, war aber nur Lautmalerei, um den eigentlichen Text zu strecken: »Einmal wissen dieses bleibt für immer / ist nicht Rausch der schon die Nacht verklagt…«

Diese Wörter stammten nicht von der Band. In ihrem Megahit »Am Fenster« vertonten City ein kurzes Gedicht der Lyrikerin Hildegard Maria Rauchfuß. Das wussten zwar die wenigsten, doch bei Zeilen wie »Einmal fassen tief im Blute fühlen / dies ist mein und es ist nur durch dich« ahnte auch der Lyrikverächter, dass hier kein Wegwerftext gesungen wurde, den die Band nachts um drei auf einen Bierdeckel gekritzelt hatte. Hildegard Maria Rauchfuß ist ein Extrembeispiel für die geglückte Symbiose von Musik und Literatur. Nicht jedes vertonte Gedicht wird zehn Millionen Mal verkauft. Die Wechselwirkung zwischen beiden Künsten funktioniert meist stiller, wenn auch nicht weniger intensiv.

Die Songs von Patti Smith prägten die Jugendzeit der Musikerin und Autorin Katharina Franck. Ein Buch von Andy Warhol beeinf lusste das Werk des Musikers und Schriftstellers Thomas Meinecke. Die Platten von David Bowie bef lügelten die Phantasie der Schriftstellerin Karla Schmidt. Warum das so war und welche Folgen es für die Künstler hatte, lesen Sie ab Seite 40. Eine eher überschaubare literarische Gattung sind Comics, die von Musikern gezeichnet werden. Noch seltener sind Comics vom Sänger der meisten Band der Welt. Alf Ator hat seine Comics in einem Buch gesammelt, und wir haben die schönsten ausgewählt. Binden sich am Stuhl fest, liebe Leser, bevor Sie die Seiten 52 bis 55 aufschlagen. Sie werden sich beömmeln. Das Leben ist aber nicht nur Jux und Dollerei. Die menschliche Spezies hat auch ihre Schattenseiten. Beispiel: Bob Dylans staatliche Deuter. Über Dylans gesungene Worte haben sich viele Experten den Kopf zerbrochen. Auch die Genossen der Staatssicherheit der DDR dachten lange nach: Ist er für uns, oder singt er nur für Geld? Der Satiriker Gerhard Henschel machte sich Gedanken über die Stasi-Akte von Bob Dylan. Lesen Sie ab Seite 56 seinen erschütternden Bericht.

Passend zum Thema »Musik & Literatur« findet vom 17. bis 20. März die Leipziger Buchmesse statt. Die Direktion der Leipziger Messegesellschaft war so freundlich, den Termin der Buchmesse mit dem Erscheinen dieser Ausgabe zu koordinieren. Für diese nette Geste bedanken wir uns mit einem hübsch dekorierten »melodie & rhythmus«-Stand in Halle 5, E 302. Dort schenken wir Ihnen zwar keine Kugelschreiber oder Luftballons, aber ein bezauberndes Lächeln und am 17. März zwischen 16:15 und 16:30 Uhr ein Autogramm von Wolfgang Niedecken. Das hilft gegen Ihre Frustration, wenn Sie bei den Großverlagen wieder nur in Blindbänden blättern durften. Und falls nicht, denken Sie daran: Streichelt Morpheus Ihr Gesicht, singt Wolf Biermann ein Gedicht.

Herzlichst, Ihre m&r-Redaktion

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