Die Diktatur des Kapitals und die Dysfunktion, Anarchie und Psychosen der Gesellschaft – ein Stimmungsbild aus der amerikanischen Depression unter Trump
Michael Joseph Roberto
Der US-amerikanische Behemoth hat seine volle Kampfstärke erreicht. Er thront über allen anderen kapitalistischen Machtzentren, die die Welt in Richtung Faschismus und Krieg treiben. Das ist die Gefahr, die die meisten von uns in diesem todgeweihten Imperium nicht sehen können – und die wenigen, die sie erkennen, sind machtlos und haben vor allem Angst.
Wer immer noch an der Vorstellung festhält, dass der Faschismus im Grunde seines Wesens europäisch sei, der möge sich dringend mit seiner Geschichte, Ideologie und Psychologie im Kontext des gegenwärtigen Weltgeschehens befassen. Merkwürdigerweise tut dies heute kaum jemand – ein Versagen, das zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt kommt –, wohl vor allem, weil die Amerikaner diese eurozentrische Sichtweise unbewusst oder unwissentlich kultivieren oder weil sie, schlimmer noch, dank der liberalen Intellektuellen Geschichte auf das reduzieren, was sich mit deren Auslegung verträgt. Dass überall in den Vereinigten Staaten wieder über Faschismus geredet wird, ist natürlich gut. Professoren und andere Funktionäre unserer Meinungs- und Konsensfabriken leisten allerdings keinen erhellenden Beitrag – ihr größtes Verdienst ist es, die Öffentlichkeit in Unwissenheit zu lassen.
So werden die faschistischen Parteiführer, die in kapitalistischen Demokratien an die Macht gekommen waren, in New York Times und Washington Post, auf CNN, MSNBC und anderen Kanälen der Medienkonzerne nur als autoritäre Herrscher und Diktatoren gezeigt. Man sollte genau hinhören, wenn Faschismus in deren Sendungen oder Artikeln ein Thema ist, was allerdings selten genug der Fall ist. Dann kriegt man nämlich das serviert, was Liberale in puncto Tyrannei gern von ausgewiesenen Experten hören – wie dem Historiker Timothy Snyder von der Yale-Universität. Der Boston Globe hat kürzlich in seiner Rubrik »Ideen« eine Kolumne mit einer pointierten Analyse von ihm abgedruckt, in der er an führende Politiker der Republikaner appelliert, »kein Blatt vor den Mund zu nehmen« und Trump energisch nahezulegen, seine Wahlniederlage zu akzeptieren, weil andernfalls die Demokratie bedroht sei.
Snyder schließt seinen Beitrag mit der beeindruckenden Beobachtung: »Hitler ist das bekannteste historische Beispiel für diese Gefahr. Wenn Politiker die Demokratie missachten, so wie es seinerzeit die Konservativen in der Weimarer Republik der frühen 30er-Jahre getan hatten, und glauben, den weiteren Verlauf der Dinge kontrollieren zu können, dann liegen sie falsch. Es wird jemand kommen, der dem Chaos besser gewachsen ist und der es auf eine Art und Weise zu nutzen weiß, wie sie es weder gewünscht noch erwartet haben.«
Jason Stanley, ebenfalls eine Yale-Eminenz, hat 2018 ein Buch mit dem Titel »How Fascism Works: The Politics of Us and Them« (Wie Faschismus funktioniert. Die Politik von uns und denen) veröffentlicht. Sein Interesse gelte besonders der »faschistischen Taktik als Mechanismus der Machtgewinnung«, heißt es in der Einleitung. Darf man da überhaupt noch mehr verlangen? …
Michael Joseph Roberto
ist Historiker, Journalist und Musiker; er lebt in Greensboro im US-Bundesstaat North Carolina und in Boston, Massachusetts. Er hat über den Fortschrittsbegriff bei Karl Marx promoviert. Von 1997 bis 2016 unterrichtete er als außerordentlicher Professor für Zeitgeschichte an der Staatlichen Universität für Agrikultur und Technik von North Carolina. 2018 erschien sein Buch »The Coming of the American Behemoth: The Origins of Fascism in the United States, 1920–1940« (Die Heraufkunft des amerikanischen Behemoths. Die Ursprünge des Faschismus in den Vereinigten Staaten, 1920–1940).
Übersetzung: Maciej Zurowski / Susann Witt-Stahl
Der komplette Beitrag erscheint in der Melodie & Rhythmus 1/2021, erhältlich ab dem 18. Dezember 2020 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.