Der abgewählte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ähnelt der Figur des Nero in dem Sandalendrama »Quo Vadis«. Der geniale Peter Ustinov porträtierte den römischen Kaiser als narzisstischen Tyrannen, der abgeschottet von der Realität in einer Parallelwelt aus dekadentem Prunk residiert, und – weil er dafür nicht nur Zuneigung entgegengebracht bekommt – sich in Selbstmitleid suhlt.
Dieses Bild, das er auch in der Vergangenheit immer wieder abgegeben hat, zeigt aber nicht nur die Verkommenheit von Donald Trump, die seine politischen Gegner aus dem Lager der Liberalen, der Demokratischen Partei und Transatlantiker in Europa, als das zentrale Problem ausmachen wollen – es entlarvt vielmehr den Zustand des kapitalistischen Systems im gelobten Land der Warenproduktion, das »nur um des Privateigentums willen existiere«, wie Karl Marx und Friedrich Engels feststellten. In der ökonomischen und ökologischen Krisenlage, mit der wir heute konfrontiert sind und die durch eine verheerende Sozialpolitik in der Coronapandemie immer weiter eskaliert, entfalten sich das sozialdarwinistische Prinzip und faschistische Potenzial des Kapitalismus, dessen destruktive Kräfte jederzeit freizudrehen drohen.
Diese historisch-materialistischen Erfahrungen bilden den Kompass für diese Ausgabe der M&R, die wir den USA und der Kultur der sich dort für die arme Bevölkerung und – von Proud Boys und anderen militanten Rechten drangsalierten – Minderheiten zuspitzenden Tragödien widmen. Dafür haben wir amerikanische Intellektuelle wie den Aufstandstheoretiker Joshua Clover und den Herausgeber des marxistischen Magazins Monthly Review John Bellamy Foster gewinnen können. Letzterer skizziert die Gefahren einer von Joe Biden als »Politik der Versöhnung« angepriesenen »neoliberal-neofaschistischen Allianz«. Der Historiker Gerald Horne erklärt die amerikanischen Zustände als Erbe eines Siedlerkolonialismus, dessen Erfolgsstory unfreiwillig ebenso von »Stolen People« geschrieben wie auf »Stolen Land« aufgebaut wurde – und damit auch unweigerlich zur Widerstandsgeschichte versklavter Schwarzer und zur Ausrottung vorgesehener Indigener wurde. Die Bestsellerautorin Nancy Isenberg analysiert eine schreckliche Begleiterscheinung der Klassengesellschaft in den USA und ihrer Verschleierungsideologie des »American Dream«: den besonders durch die Kulturindustrie propagierten Hass auf den »weißen Abschaum«, wie die verelendeten weißen Armen in den USA verächtlich genannt werden. Michael Joseph Roberto liefert uns das Stimmungsbild einer zerfurchten Gesellschaft, die nach und nach in Chaos und Psychosen versinkt und derzeit die besten Chancen hat, Gastgeber des Endspiels der »Diktatur des Kapitals« zu werden.
Donald Trumps Ankündigung, es werde noch viel passieren, bevor er abtrete, lässt in jedem Fall nichts Gutes ahnen. Es gilt zu hoffen, dass er und seine einflussreiche Klientel – zu der auch rund 60 Millionen die Apokalypse beschwörende Evangelikale gehören – nicht wie die Figur des sich am eigenen Allmachts- und Verfolgungswahn berauschenden römischen Despoten »Flammen, verzehrt es, wie im Feuerofen!« rufen und den Nerobefehl ausgeben.
Viele Amerikaner versuchen aber auch, die Spaltung ihrer Gesellschaft zu überwinden, und kämpfen Seite an Seite, um diese und andere Bedrohungen aktiv abzuwehren (wie auch die Massenproteste nach dem Mord von Polizisten an George Floyd im Frühsommer 2020 in rund 550 Städten gezeigt haben). Nicht zufällig verzeichnet die Socialist Rifle Association gegenwärtig einen beachtlichen Zulauf.
Liebe Leser, genießen wir derweil unser zivilgesellschaftliches Privileg, uns mit der Waffe der Kritik verteidigen zu können, solange es noch geht …
Susann Witt-Stahl
Chefredakteurin M&R
Der Beitrag erscheint in der Melodie & Rhythmus 1/2021, erhältlich ab dem 18. Dezember 2020 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.
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