Melodie & Rhythmus

Auf Eis gelegt

06.01.2018 09:49

Ausgaben von Melodie & Rhythmus: 1966, 2010, 2014 und das aktuelle Heft vom Januar 2018
Ausgaben von Melodie & Rhythmus: 1966, 2010, 2014 und das aktuelle Heft vom Januar 2018

Die Produktion von Melodie & Rhythmus, Magazin für Gegenkultur, wird vorerst eingestellt. Einnahmen reichen nicht, um hohe inhaltliche Ansprüche auf Dauer zu finanzieren.

Von Dietmar Koschmieder

Im Herbst 2008 sollte die Musikzeitschrift Melodie & Rhythmus, die im September 1957 in der DDR gegründet wurde, eingestellt werden. Verhindert wurde dies durch den Verlag 8. Mai, in dem seit 1995 auch die Tageszeitung junge Welt erscheint. Er übernahm mit dem Heft Dezember 2008 die Herausgabe der Zeitschrift. Wie schon bei junge Welt hatte sich der Verlag für diesen Schritt entschieden, um ganz bewusst an das DDR-Erbe anzuknüpfen: Ein journalistisches Produkt, das dem Friedenskampf und Antifaschismus, der Aufklärung und internationalen Solidarität verpflichtet war und aus genau diesen Gründen für ein sozialistisches Deutschland eintrat, sollte nach dem Ende der DDR nicht von der Bildfläche verschwinden. Wir erkannten die Möglichkeit, aus der Musikzeitschrift ein Produkt linker Gegenkultur zu entwickeln – allerdings standen uns dafür nur bescheidene ökonomische Ressourcen zur Verfügung. Konzeption, Herstellung und Bewerbung der Musikzeitschrift mussten zusätzlich zur Konzeption, Herstellung und Bewerbung der Tageszeitung bewältigt werden. Von Anfang an ein sehr schwieriges Unterfangen.

Aber auch eines, das uns und den Leserinnen und Lesern zugute kam: Wir konnten Kontakte aus dem Tageszeitungsgeschäft für Melodie & Rhythmus und Möglichkeiten, die sich aus der Kulturzeitschrift ergaben, für junge Welt nutzen. Aber bei jeder ökonomischen Krise im Verlag (und von denen gab es nicht wenige) stand auch die Musikzeitschrift auf dem Prüfstand. Heute geben wir bekannt, dass wir die weitere Produktion der Melodie & Rhythmus nicht aufrechterhalten können – ausgerechnet zu einer Zeit, in der Verlag und Genossenschaft relativ stabil dastehen. Warum?

Als wir Melodie & Rhythmus übernommen haben, beschäftigten wir uns in diesem Medium vor allem mit Produktionen der Musikbranche und ihren Herstellungsbedingungen im deutschsprachigen Raum. Finanziert wurde das Heft wie üblich über Anzeigen aus genau dieser Branche, die sich dabei allerdings auch wie üblich das Recht herausnahm, auf Inhalte des Heftes Einfluss zu nehmen. Davon wollten wir uns befreien und schufen in verschiedenen Schritten ein neues Produkt, bis wir im Sommer 2017 die Musikzeitschrift konsequent zum Magazin für Gegenkultur weiter ausbauten. Dieser Schritt war mutig, vielversprechend, notwendig. Aber es stellte sich auch heraus, dass zur Sicherung der erhöhten inhaltlichen Anforderungen mehr Ressourcen benötigt werden – in einer Höhe, wie sie unser Verlag derzeit nicht zur Verfügung stellen kann. Um Melodie & Rhythmus in der notwendigen Qualität entwickeln zu können, wären mindestens zwei zusätzliche Planstellen und ein erhöhtes Werbebudget erforderlich, ohne dass aber verbesserte Einnahmen in gleicher Höhe kurz- oder mittelfristig zu erwarten wären.

Hinzu kommt eine veränderte politische Situation, die auch die Kulturlandschaft modifiziert: Rechte Demagogen und ihre Organisationen, Medien und Parteien sind auf dem Vormarsch. Fortschrittliche Kultur wird an den Rand gedrängt, linke Strukturen bleiben in der Defensive. Und nicht nur das Leseverhalten ändert sich: Viele Menschen folgen lieber einem Wortführer, statt sich selbst mit Argumenten und Fakten auseinanderzusetzen. Die Infrastruktur für Tageszeitungen wird immer brüchiger, und junge Welt muss sich viel stärker als bisher den Anforderungen aus der Digitalisierung der Branche stellen. Unter diesen Bedingungen wird der Verlag seine Kräfte auf das Kernprodukt junge Welt konzentrieren. Nach eingehender Diskussion haben wir uns deshalb entschlossen, Melodie & Rhythmus nicht weiter zu produzieren. Soeben ist unser Heft 1/18 mit dem Schwerpunkt »Afrika« an Abonnenten und Kioske ausgeliefert worden. Das Heft 2/18 mit dem geplanten Schwerpunkt »Geld« wird aus den genannten Gründen nicht erscheinen.

Unser Dank gilt der Redaktion und den Autorinnen und Autoren von Melodie & Rhythmus, allen voran Chefredakteurin Susann Witt-Stahl, für ihre hervorragende Arbeit. Aber auch allen Kolleginnen und Kollegen aus dem Verlag 8. Mai, die für Melodie & Rhythmus viele zusätzliche Stunden geackert und grandiose Ideen entwickelt haben, ist für ihr Engagement zu danken. Ein Magazin für Gegenkultur bleibt trotzdem dringend notwendig, es müsste allerdings ein Wunder geschehen, damit wir die Produktion wiederaufnehmen können.

Bückware und Impulsgeber

Melodie & Rhythmus war die älteste deutsche Musikzeitschrift, gegründet im November 1957 in der DDR. Sie erschien im Henschelverlag, anfangs als dünnes Heft im DIN-A5-Format, in dem auch Operetten besprochen wurden. In der ersten Ausgabe wurde das Ziel genannt, die »leichte Muse« zu entwickeln, die den »Optimismus des Aufbaus« des Sozialismus ausstrahlt, anstatt »Exzesse à la Rock ’n’ Roll« zu fördern.

Im Laufe der Zeit bekam die Redaktion aber »Narrenfreiheit«, erzählte Roswitha Baumert, die das Blatt bis zum Heft 1/1990 leitete, in der Ausgabe zum 55. Geburtstag 2012. Sie fügte hinzu, dass »niemand von uns – Chefredakteur, Sekretärin, Redakteurin – in der SED oder einen anderen Partei« gewesen sei. Sie seien »immer von rein musikalischen Gesichtspunkten ausgegangen«, wenn es wie meist um internationalen Pop und Jazz gegangen sei. Damit erreichte M&R eine Auflage von 300.000 Stück und war doch schon am Erscheinungstag vergriffen – als »Bückware aus Papiermangel« (Baumert).

Nach 1989 litt man eher unter Ideenmangel, wie man auf den internationalen Pop reagieren sollte, wenn alle Kanäle damit verstopft waren. 1991 wurde die Zeitschrift eingestellt und erst 2004 von dem Berliner Musikjournalisten Christian Hentschel wiedergegründet. Nach mehreren Verlagswechseln wurde sie im Dezember 2008 vom Verlag 8. Mai, der die junge Welt herausgibt, gekauft. Damit wurde M&R politischer, bekam thematische Schwerpunkte (wie »Musik und Film«, »Musik und Rausch«) und künstlerisch eigenständige Titelfotos.

Chefredakteure waren erst Nicole Kirchner, dann Jürgen Winkler und schließlich Gerd Schumann, der frühere Ressortleiter Außenpolitik der jW. Er löste die M&R mehr und mehr aus der PR-Diktatur der Kulturindustrie, eine Entwicklung, die im März 2014 zur Neuerfindung als marxistisches Musikmagazin führte, mit neuem Layout und neuer Redaktion unter Susann Witt-Stahl, die ihr bis zuletzt kämpferisch vorstand. Seitdem geht es klar gegen die Kulturindustrie inklusive ihrer pseudolinken Hofnarren. Immer wieder neu gegen die »ganze alte Scheiße«, wie Karl Marx sagte. Das zeigte auch die Revolutionshitparade, die die M&R-Leser wählten. Platz 1: »Die Internationale«. Zur sehr interessanten Kuba-Ausgabe (Heft 4/2016) produzierte M&R sogar eine eigene CD – bei den anderen Musikzeitschriften ist das ein Wegwerf-Gimmick, hier war es der Appell, sich genau zu konzentrieren.
Konsequent wurde M&R ab Heft 2/2016 zum »Magazin für Gegenkultur« erweitert, von Witt-Stahl im Interview mit der jW vorgestellt als »ein Organ für kulturelle und künstlerische Fundamentalopposition«, das »seine Impulsgeber nicht vorwiegend in den Elfenbeintürmen, sondern auf der Straße, in den Ghettos und Slums, natürlich auch in den Betrieben« findet.

(jW)

Der Artikel ist zuerst am 06.01.2018 in der Tagezeitung junge Welt erschienen.

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